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Hans-Dietrich Genscher (FDP) war deutscher Außenminister. Seine Kolumne im Tagesspiegel erscheint einmal im Monat.

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Gastkommentar: Deutschland muss europafähig bleiben

In der Euro-Frage nach Karlsruhe zu gehen, ist ein Missbrauch des Rechts. Die deutsche Verfassung beinhaltet die Pflicht, die europäische Integration zu befördern.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben uns eine einzigartige Verfassung hinterlassen. Schon der Artikel 1, der von der Würde des Menschen handelt, und damit die Würde jedes Menschen meint, zeigt den Kern dieser Verfassung. Der Mensch – jeder eben –, ob Inländer oder Ausländer, welcher Hautfarbe, welchen Glaubens und welcher Meinung auch immer, steht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes. Das ist alles andere als nur eine Straßenverkehrsordnung für das Zusammenleben von Bürgerinnen und Bürgern in einem Staat. Dieses Grundgesetz ist zuallererst eine Werteordnung. In diesem Verständnis haben die Verfassungsorgane ihre Verantwortung auszuüben.

Doch das Grundgesetz greift weiter. Erstmalig bisher in der deutschen Verfassungsgeschichte, vielleicht in der Geschichte der Verfassungen überhaupt: Unsere Verfassung gibt der deutschen Außenpolitik ihre Grundlinien vor. Es galt, die Einheit Deutschlands zu vollenden. Das wurde am 3. Oktober 1990 erreicht. Der Verfassungsauftrag dafür wurde aus dem Grundgesetz entfernt.

Was bleibt? „Von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Das heißt, Europa zu einen und dem Weltfrieden zu dienen, das sind alle Verfassungsorgane verpflichtende Verfassungsaufträge. Wenn davon gesprochen wird, dass das Grundgesetz – nur – europaoffen sei, so ist das ein offenes Missverständnis unserer Verfassung. Uns ist es nicht nur erlaubt, Europa zu einen, nein, wir sind darauf festgelegt, dies zu tun. Das ist nicht nur eine Verfassungsermächtigung, sondern eine verfassungsrechtliche Verpflichtung. Der Verfassungsauftrag gibt dem Einigungsprozess auch keine Stufen, keine Beschränkungen oder Grenzen vor. Die dafür zuständigen Verfassungsorgane haben den Verfassungsauftrag nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen und das in europäischer Partnerschaft. Zur europäischen Einigung gehören alle Mitglieder der Europäischen Union. Natürlich sind dabei die Grundrechte ebenso unantastbar wie das Demokratieprinzip.

Über die Struktur des geeinten Europa macht das Grundgesetz ebenso keine Vorgaben. So wie es klugerweise vor der Wiedervereinigung auch darauf verzichtet hat, Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands vorzuschreiben. Beachtet werden sollte auch: Das Grundgesetz beruft sich bei der Erteilung der außenpolitischen Verfassungsaufträge ausdrücklich auf den Willen des deutschen Volkes. Das europäische Einigungsgebot ist für alle deutschen Verfassungsorgane bindend.

Die Versuche, sich durch die Hintertür über die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit einer Korrektur der Entscheidungen der Parlamente zu eröffnen, kann bei missbräuchlicher Wahrnehmung zu einem Verstoß gegen das Demokratiegebot führen. Wir verfügen über handlungsfähige Gesetzgebungsorgane und in Europa gibt es das Europäische Parlament. Zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts gehört es auch, die Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane zu wahren. Das gilt natürlich gegenüber dem Versuch, das Recht auf Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu missbrauchen, um den europäischen Einigungsprozess in Deutschland und von Deutschland aus in Europa zu erschweren oder gar zum Stillstand zu bringen.

Die Mütter und Väter unserer Verfassung wussten um die Gefahren eines erneuten deutschen Alleingangs durch Selbstisolierung in Europa. Deshalb der Verfassungsauftrag zur europäischen Einigung und nicht nur eine Verfassungserlaubnis, und deshalb auch keine Vorgaben für den Vollzug des europäischen Einigungsgebots. Deutschland muss europafähig bleiben.

Das Bundesverfassungsgericht steht vor einer wahrhaft historischen Entscheidung. Dabei gilt es, den Grundsatz „wehret den Anfängen“ durchzusetzen – auch gegenüber den Versuchen, das höchste deutsche Gericht in die Rolle eines königlich-bayerischen Amtsgerichts zu drängen.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.

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