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POSITIONEN: Geiz des Gesetzes

Die Haftentschädigung sollte auf 100 Euro pro Tag angehoben werden Von Ulrich Schellenberg

Wie überall, wo Menschen am Werk sind, ist auch die Justiz nicht frei von Irrtum. Trotz aller rechtsstaatlichen Sicherheit verfangen sich Bürger ohne nachweisbare Schuld in den Maschen der Strafgesetze. Gleichgültig, ob aus Ignoranz, Unkenntnis oder der Verkettung unglücklicher Umstände – Justizirrtümer wird es immer geben.

Macht man sich mit diesem Gedanken erst einmal vertraut, stellt sich die Frage, welchen Ausgleich, welche Wertschätzung erfährt jemand, der sich zu Unrecht im Fokus von Ermittlungsmaßnahmen wiederfindet, gegen den zu Unrecht Untersuchungshaft angeordnet wird, oder der gar nach einem umfangreichen Strafprozess zu Unrecht verurteilt wird und monate- oder gar jahrelang unschuldig hinter Gittern saß.

Das Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) spricht eine klare Sprache: Für jeden angefangenen Tag zu Unrecht erlittener Freiheitsentziehung wird ein Schmerzensgeld von 11 Euro gezahlt.

Liest man diesen Betrag, so stutzt man und fragt sich, wie kann das sein, denn nur zum Vergleich: Schon für jeden Tag entgangene Urlaubsfreude halten die Gerichte im Regelfall und ohne weitere Begründungen einen Betrag von 50 Euro oder mehr für angemessen. Die Erklärung ist so schlicht wie abenteuerlich. Während jeder von uns, der einen anderen in seiner körperlichen Integrität, seiner Freiheit oder seiner sexuellen Selbstbestimmung verletzt, neben dem Ersatz des Vermögensschadens auch ein angemessenes Schmerzensgeld bezahlen muss, dessen Höhe nach den Umständen des Einzelfalles durch ein unabhängiges Gericht festgesetzt wird, gibt es für die Freiheitsentziehung durch einen Justizirrtum einen festen Tarif. Man zählt die Tage, die jemand zu Unrecht im Gefängnis saß, zusammen, multipliziert sie mit der Schmerzensgeldpauschale von 11 Euro pro Tag, und das erlittene Unrecht ist zumindest nach den Buchstaben des Gesetzes abgegolten. Der Betroffene hat keine Möglichkeit, ein unabhängiges Gericht anzurufen und ein höheres Schmerzensgeld zu fordern. Ein solches Verfahren ist einfach, unbürokratisch und – das sollte man nicht unterschätzen – äußerst kostengünstig.

Dies allein für sich genommen macht schon deutlich, dass unser Rechtsstaat seiner vornehmsten Pflicht, seine eigenen Opfer angemessen zu entschädigen, nicht gerecht wird. Der Betrag ist so weit außerhalb jeden Verhältnisses, dass man sich bereits fragen muss, ob der Begriff „Entschädigung“ nicht geradezu verhöhnt wird.

Das ganze Maß an politischer Gleichgültigkeit und Ignoranz wird deutlich, wenn man darüber hinaus bedenkt, dass dieser Entschädigungsbetrag seit 20 Jahren nur ein einziges Mal erhöht wurde. Als im Jahr 2001 auf Euro umgestellt wurde, hat sich der Gesetzgeber immerhin entschlossen, den sich ergebenden Umrechnungsbetrag um 77 Cent zu erhöhen und auf den nächsten vollen Euro aufzurunden. Seit sechs Jahren steht eine Erhöhung auf der Tagesordnung der Landesjustizminister. Bis heute ist nichts passiert.

Berlin hat in den letzten Jahren jeweils knapp 100 000 Euro an Haftentschädigung gezahlt, das entspricht knapp 1000 Tagen unschuldig erlittener Haft, die entschädigt werden mussten. Bezogen auf den Landeshaushalt ist dies kein Betrag, der ins Gewicht fällt. Für jeden Einzelnen aber, der zu Unrecht inhaftiert wird, bedeutet dies eine existenzielle Krise. So wie für die Berliner Arzthelferin, die aufgrund eines fehlerhaften Gutachtens des Landeskriminalamtes 888 Tage unschuldig im Gefängnis saß. Sie bekommt für zweieinhalb Jahre Haft knapp 10 000 Euro Schmerzensgeld.

Es ist offensichtlich, dass unser Rechtsstaat seiner Verantwortung an dieser Stelle nicht gerecht wird. Es ist ohnehin schwer, erlittenes Unrecht mit Geld wiedergutzumachen. Aber die Höhe der Entschädigung drückt auch die Wertschätzung aus, die wir denjenigen entgegenbringen, die Opfer eines Justizirrtums geworden sind. Wie weit der Politik in dieser Frage die Maßstäbe verloren gegangen sind, wird deutlich, wenn man sieht, dass derzeit um die Erhöhung einzelner Euros gefeilscht wird und die Landesjustizminister geschlossen eine nachhaltige Erhöhung unter Hinweis auf „fiskalische Gründe“ ablehnen. Die politische Diskussion ist nicht nur kleinlich, sie ist im höchsten Maße peinlich und wird auf dem Rücken derjenigen ausgetragen, die bereits genug gelitten haben.

Bislang hat sich nur die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue der Initiative des Berliner Anwaltsvereins angeschlossen und tritt für eine deutliche Erhöhung der Entschädigung auf mindestens 100 Euro pro Tag zu Unrecht erlittener Haft ein. Nun müssen endlich auch die anderen Bundesländer Farbe bekennen und ihren Widerstand aufgeben. Bei der Bemessung einer angemessenen Entschädigung für Justizopfer verbieten sich fiskalische Überlegungen unter allen Umständen. Die Stärke des Rechtsstaates zeigt sich gerade auch darin, wie er mit seinen eigenen Schwächen umgeht.

Der Autor ist Vorsitzender des Berliner Anwaltsvereins.

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