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Meinung: Handschellen der Geschichte

Deutschland darf sich in Nahost nicht hinter der Vergangenheit verstecken Von Joseph N. Yackley

Immer, wenn ich nach Deutschland komme, bin ich beeindruckt von dem öffentlichen Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte. Als Historiker bewundere ich die vielen Museen und Denkmale und vielen Veranstaltungen zu historischen Themen. Als Journalist schätze ich die Zeitschriften und Feuilletons, die die Gegenwart in ihren historischen Kontext setzen. Als Amerikaner habe ich großen Respekt vor einem Denken, das tief in der Vergangenheit ansetzt.

Wie sehr die Geschichte Teil der deutschen Gegenwart ist, wird jedem Besucher deutlich, der in den vergangenen Wochen ferngesehen hat: Bis in mein kleines Berliner Untermietzimmer drangen die hitzigen Debatten etwa zu Günter Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS oder zur Vertreibungsausstellung „Erzwungene Wege“ – Debatten, deren Kern die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer schwierigen Geschichte bildet. Dass umgekehrt diese Geschichte genauso stark die Gegenwart bestimmt, war bei der wichtigsten Diskussion des vergangenen Monats zu erkennen: Soll Deutschland Soldaten in den Nahen Osten schicken oder nicht? Oder anders formuliert: Verbietet es die deutsche Vergangenheit, dass das Land eine militärische Rolle in dieser Region spielen kann?

Natürlich soll die Bundesrepublik ihre Geschichte annehmen und sich von ihr auch leiten lassen. Sie sollte sich jedoch nicht von ihr in Geiselhaft nehmen lassen, oder sie sogar als Ausrede benutzen, um sich vor der Verantwortung zu drücken, die ihr als einem der führenden Länder der Welt zukommt.

Selbst Israel ist heute bereit, die Geschichte zur Seite zu legen. Das machte Premierminister Ehud Olmert deutlich, als er die Bundesregierung bat, sich an der Friedenstruppe im Libanon zu beteiligen. Obwohl Kanzlerin Merkel von der „historischen Pflicht“ spricht, das Existenzrecht Israels zu verteidigen, lehnt Deutschland eine Beteiligung an Bodentruppen gleichwohl „aus historischen Gründen“ ab.

Vor sieben Jahren wäre eine solche Begründung noch verständlich gewesen. Als es damals um deutsche Truppen für den Balkan ging, bedeutete das einen Präzedenzfall: Bis dahin hatte seit Ende des Zweiten Weltkriegs kein deutscher Soldat auf fremden Boden gestanden. Mittlerweile hat die Bundeswehr rund 8000 Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan, sogar im Kongo stationiert und trägt dort zur Friedenssicherung bei.

Deutschland sollte eine offene Debatte darüber führen, ob und wie sich das Land militärisch im Libanon engagieren will. Aber die von der deutschen Vergangenheit überlagerte Diskussion darüber ignoriert die entscheidenden Fragen: Wie wichtig ist die Mission? Was spricht dafür, wo sind die Risiken? Was für ein Mandat muss die Mission haben? Es sind vielmehr die Antworten auf solche Fragen, von denen die Entscheidung über eine Entsendung von Soldaten abhängen sollte.

Die Vergangenheit hilft hier nicht weiter. Aus „historischen Gründen“ wäre schließlich beides zu vertreten: ein Einsatz, weil der Israels Grenzen sicherer macht – und kein Einsatz, weil der angeblich das Risiko beinhaltet, dass deutsche Soldaten auf Israelis schießen müssten.

Die Bundesregierung befürwortet den UN-Friedenseinsatz im Libanon und verspricht ihn zu flankieren: finanziell, politisch, mit einem Einsatz der deutschen Marine und vielleicht sogar mit Bundespolizisten. Doch Bodentruppen sollen andere Länder zur Verfügung stellen.

Deutschland ist eines der reichsten Länder Europas. Deutschland fordert einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat. Im Januar übernimmt das Land die Präsidentschaft von EU und G 8. Damit bietet sich eine einzigartige Chance, positiven Einfluss auf den Gang der Welt zu nehmen. Dieser Verantwortung in der Gegenwart muss sich Deutschland stellen.

Ob Berlin am Ende Bodentruppen in den Libanon entsendet, ist eine freie Entscheidung der Regierung. Sie sollte jedoch ausschließlich von der gegenwärtigen weltpolitischen Lage beeinflusst sein – und nicht von den Gespenstern der deutschen Vergangenheit.

Der Autor ist Redakteur bei der Oxford Business Group und derzeit Arthur-F.-Burns-Stipendiat beim Tagesspiegel.

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