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Martenstein

© Tsp

Harald Martenstein: Kempowski statt Hegemann

Wenn Literaturkritiker einer zum Zeitpunkt des Schreibens noch 16-Jährigen unterstellen, dass sie ein Genie ist, dann haben sie, fürchte ich, Anlass zu selbstkritischen Gedanken.

Die 17-jährige Helene Hegemann hat einen Roman veröffentlicht, „Axolotl Roadkill“. Dieser Roman wurde in fast allen Feuilletons als Meisterwerk gefeiert. Nun kam heraus, dass Helene Hegemann aus dem Internet Texte übernommen hat, hier mal eine Seite, dort mal einen Satz. Zuerst wurde sie gefeiert, jetzt wird sie fast überall genauso heftig gegeißelt. Auch einige ältere Schriftstellerkollegen fallen in der Berliner Literaturzeitschrift „B.Z.“ über sie her. David Wagner: „Plagiat, naiv, unrechtmäßig.“ Thomas Brussig: „Wirklich peinlich.“

Was ich wirklich peinlich finde: Die wachsende Hysterie der Kulturbeobachter, die inflationär vorhandene Bereitschaft, an jeder Straßenecke ein Meisterwerk wahrzunehmen, dieser von sich selbst berauschte, sich selbst schon im Moment des Aussprechens dementierende Jubelton, der, weil er so unrealistisch ist, jederzeit in sein Gegenteil kippen kann. Wir bewegen uns alle in einem breiten Fluss, der schon lange fließt, und es ist, jenseits der Meisterwerke, schwierig genug, überhaupt etwas halbwegs Originelles zustande zu bringen. Warum nicht etwas wahrhaftiger an die Dinge herangehen? Ich kenne übrigens niemanden, der in der Lage wäre, alles aus sich selbst heraus zu schöpfen, vor allem am Anfang kopiert man zumindest die Tonlage von Vorbildern. Ob es jemals auch nur ein einziges echtes Genie gegeben hat?

Wenn Literaturkritiker einer zum Zeitpunkt des Schreibens noch 16-Jährigen unterstellen, dass sie ein Genie ist, dann haben sie, fürchte ich, Anlass zu selbstkritischen Gedanken.

Wie schreibt man überhaupt? Man setzt immer wieder die gleichen drei oder vier Geschichten zusammen, das ist, kurz gefasst, Literaturgeschichte. Das Entscheidende sind die eigene Sprache, die man findet oder nicht findet, und der eigene Blick auf eine Welt, die schon tausendmal beschrieben oder erzählt wurde. Auf ein paar gestohlene Sätze oder eine gestohlene Szene kommt es, aufs Ganze gesehen, nicht an, so, wie mein Schneemann mein Schneemann bleibt, auch wenn ich ihm eine Karotte aus Nachbars Garten als Nase ins Gesicht stecke.

Ich rede hier nicht übers Urheberrecht und nicht über die Pflicht, Zitate kenntlich zu machen, in diesen beiden Punkten haben die Hegemann-Kritiker sicher Recht. Ich rede über die Frage, ob und wann ein Roman gut ist oder nicht. Und wenn einer aus lauter gestohlenen Sätzen etwas Neues zusammenbaut, dieses Neue aber klingt plötzlich ganz nach ihm, oder nach ihr, und dieses Neue ist eben wirklich etwas Unverwechselbares, dann mag diese Person ein großer Halunke sein, und trotzdem hat sie etwas geschaffen, das zu Recht auf der Welt ist.

Die Absicht, das Hegemann-Buch zu lesen, habe ich trotzdem nicht, ich lese zurzeit Walter Kempowski.

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