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Hauptstadtpolemik: Berlin ist eine Zumutung, ein Alptraum, die Hölle

Es ist die Hölle. Die reine Hölle. Diese Stadt ist der einzige Ort in Deutschland, „wo man sich manchmal nach Sibirien sehnt“. Fragt sich nur: Warum bleiben wir?

Im Grunde ist Berlin „unbewohnbar“: „barbarisch, hässlich, ungeheuer fremd“. Die Straßenbahn quietscht im Schneckentempo von Pankow nach Mitte, während im tristen Hinterhof eine junge Frau nackt duscht. Einfach so, ohne Vorhang, bei offenem Badezimmerfenster. Und im Kulturkaufhaus Dussmann gibt es nicht mal die „Atlantic Monthly“. Nur Dieter Bohlen. Im Laden um die Ecke wird derweil „Pharmaschinken“ feilgeboten, und am Fahrkartenschalter der BVG kommt die brutale Antwort auf eine zarte Bitte um eine Quittung so sicher wie das Amen in der Kirche: „Dit hättense vorher sagen müssen!“

In einem Wort: Berlin ist eigentlich „gar kein Ort“, sondern die pure „Leere“. Ein Alptraum. Dieses vernichtende Urteil ist sieben Jahre alt. Verkündet haben es fünf Autoren, darunter die FAZ-Feuilletonisten Nils Minkmar und Claudius Seidl, in ihrem Sammelband: „Hier spricht Berlin. Geschichten aus einer barbarischen Stadt.“

Berlin-Kritik, Berlin-Bashing, praktische Übungen in lokaler Gesellschaftskritik, wie sie in den letzten Wochen auch auf „Tagesspiegel-Online“ exerziert wurden, sind also nicht ganz neu. Irritierend ist nur, dass alle Feuilletonisten, soweit bekannt, bis heute in der Hölle Berlin ausharren, statt nach Hamburg oder München zu ziehen. Oder an den Starnberger See.

Ist das höhere Dialektik, habituelle Schizophrenie oder nur die gute alte Hassliebe, die allmähliche Gewöhnung an den süßen Schrecken, an die atemberaubende Hässlichkeit, die scheußliche Schönheit und den lärmenden Zauber von Wowi-Town?

Dass einer wie Thilo Sarrazin hier sieben Jahre lang als Finanzsenator die Stellung hielt, hätte seinen Kritikern längst zu denken geben können. Der Mann kennt keinen Schmerz. Und ein bisschen gilt das eben auch für den ideellen Gesamtberliner. Das Leben ist ein Kampf, und es geht über viele Runden. Hier hat Dir niemand einen Rosengarten versprochen.

Dabei könnte es so einfach sein.

„Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“, dekretierte der Wiener Schriftsteller Karl Kraus vor fast hundert Jahren.

Das Problem ist nur: Der Berliner, ob alteingesessen oder mit schwäbischem Migrationshintergrund, will gar keine gemütliche Stadt – sieht man einmal vom Bionade-Biotop der Besserlebenden rund um den Kollwitzplatz ab, wo die Weltgeschichte mit der biodynamischen Wohnzimmerisierung der Verhältnisse zu ihrem glücklichen Ende gekommen zu sein scheint. Im Rest Berlins will man es lieber ein wenig aufregender und abgründiger haben. Gern auch ein bisschen versifft und abgefahren, schrill und ultraspießig zugleich. Selbst die Wilmersdorfer Witwe hat ihre Ecken und Kanten.

Dass Rainald Grebes wunderbares Lied „Prenzlauer Berg“ bei seinen jüngsten Auftritten im Admiralspalast stürmisch bejubelt wurde, ist kein Zufall. Die pseudokreativen Dauerbrunch-Softies und schnöseligen Laptop-Poser, die alle „gleich aussehen, irgendwie individuell“ (Grebe), haben einfach kein Recht zu behaupten: „Ich bin ein Berliner!“

Soll’n sie doch nach Hause gehen und gegen „Stuttgart 21“ kämpfen, statt im „Sowohl als auch“ rumzuhängen.

Dabei ist man durchaus bescheiden, was die konkreten Anforderungen an den waschechten Berliner betrifft. Es braucht gar nicht den ultimativen Hardcore-Currywurst-Test, das klebrige Kultding einhändig in der voll gepackten U3 balancierend, natürlich mit viel Ketchup und Mayo. Vielen genügt schon die Bierflasche in der Hand, die wundersamer Weise immer halb voll ist. Irgendwann wird sie auf dem nächstgelegenen Fahrradweg zerschmettert. Oder an der Bordsteinkante gekillt, gern mit aufgeschlitztem Flaschenhals, der mit dem danebenliegenden Hundehaufen auf Du und Du ist und ein schöpferisches Ganzes bildet.

Das ist arm, aber sexy. Irgendwie jedenfalls.

Andere, zum Beispiel der passionierte Kampfradler, zischen über eben jenen Radweg wie Satan auf der Flucht vor dem Allmächtigen und nehmen natürliche Hindernisse wie Fußgänger, Autos, allein erziehende Mütter und aufgetürmte Bierkästen nur als Slalomstangen einer Challenge-Piste wahr, die es schnell zu umfahren gilt. Pech nur, wenn der Rad-Guerillero dabei dem relativ neuen Phänomen des Feng-Shui-Fußgängers begegnet. Diese Spezies hat sich fest vorgenommen, auf das innere I Jing oder Ji Gong, eine Art göttliches, jedenfalls grundgutes Karma zu vertrauen. Deshalb verzichtet der dieserart weltentrückte Fußgänger systematisch auf den Gebrauch seiner fünf Sinne. Er sieht nichts, er hört nichts, er spürt nichts, und wenn er in dieser metaphysischen Selbst- und Weltvergessenheit die Straße überquert, dann weiß er auch Margot Käßmann hinter sich, besser: über sich schwebend: „Niemals kannst Du tiefer fallen als in Gottes Hand.“

Das Gegenteil des weltfernen Asphalt-Pilgers – es gibt ihn neben der unscheinbaren Normalausgabe auch in der Afro- und Posthippie-Variante – ist der Lärmbruder im Geiste, ob im Quattro-Wummer-Sound seines Automobils, beim stundenlangen Trommeln in der Hasenheide, als Technofreak in der Wohnung unter Dir oder in jener Präsentationsform, die getrost als Ballermannisierung Berlins bezeichnet werden darf. Hier tobt sich die Freiheit ebenso lautstark wie überschwänglich, aber auch sinn- und grenzenlos aus, und längst genügt es in Restaurants und Kneipen nicht mehr, dass die Innenbeschallung pausenlos läuft, nein: auch hier geht man, kongenial mit der Draußensitzkultur verwoben, konsequent ins Freie. So beglückt der immerwährende Musikantenstadl der noisy happy few die komplette Nachbarschaft.

Kurt Tucholsky, der große Feuilletonist der Weimarer Republik, hat schon 1927 in seinem „Traktat über den Hund, sowie über Lärm und Geräusch“ gefleht: „Lieber Gott, gib mir den Himmel der Geräuschlosigkeit. Unruhe produziere ich allein. Gib mir die Ruhe, die Lautlosigkeit und die Stille. Amen.“ – Im großen Stil setzt sich die Neu-Berliner Lärmwirtschaft vor allem dort durch, wo die Verramschung des öffentlichen Raums besonders weit fortgeschritten ist: rund um den Schlossplatz, am Brandenburger Tor und am Gendarmenmarkt. Ob Panflötencombo, Hiphopper oder Saxophonsolisten – Hauptsache, es kommt keine Sekunde sinnloser Stille auf.

Schon gar nicht im Sommerhalbjahr, wenn die internationalen Kampfbrigaden der Straßenmusikszene die Innenstadtbezirke besetzen. Selbst am einst beschaulichen Fränkel- bzw. Planufer, genauer: auf der kleinen Admiralbrücke, hat sich eine Szenerie entwickelt, die in warmen Sommernächten zum schieren Terror für die Anwohner mutiert. „Lärmbelästigung ist Teil des Mainstreams und aus der frech-fröhlichen Hauptstadt schon aus Gründen gesamtdeutscher Gefühlsertüchtigung nicht mehr wegzudenken“, schrieb Magnus Klaue in der „Jungle World“, nicht gerade eine publizistische Heimstatt bürgerlicher Behaglichkeit. „Orte wie die Admiralbrücke demonstrieren schlagend den Verfall urbaner Öffentlichkeit, die im hippen Berliner Kiezleben endgültig zur clanförmig organisierten Rücksichtslosigkeit heruntergekommen ist.“

Aber klar: Rücksichtslosigkeit ist die Leitwährung im Berliner Alltagsdschungel, und wer da nicht mithalten kann, braucht gute Nerven und viel, viel Urlaub, weit weg im Süden. „Wenn die Sonne fehlt, wenn der Regen läuft, wenn die Unterschicht das Kindergeld versäuft, wenn die Hunde wachen, ihre Haufen machen, ja, dann sind wir wieder in Berlin!“, singt Christiane Rösinger voll lokalpatriotischer Hingabe in ihrer neuesten Hauptstadt-Hymne. „Wenn die Fahrradfahrer uns vom Bordstein fegen und die Verrückten in der U-Bahn laut mit sich selber reden, wenn die Öko-Eltern sich zum Brunchen treffen und die Arschlochkinder durch das Café kläffen, ja dann sind wir wieder in Berlin!“

Eben. Aber warum bleiben wir?

So laufen wir sehenden Auges in den nächsten Berliner Winter, obwohl wir wissen, dass bei Schnee und Eis wieder nur unzureichend, vielerorts gar nicht geräumt und gestreut werden wird. Und auch die neue Verordnung des Senats wird nichts daran ändern, dass gegen das Packeisgemisch aus gefrorenen Schneebergen, Straßendreck, Hundekot, Urin und Silvesterböllern wieder nur Bergschuhe und Spikes helfen, wie vor einem Jahr.

Seite 2: Abenteuer U-Bahn

Auch U- und S-Bahnfahrten bleiben Abenteuerreisen jenseits von Zeit, Raum und Ästhetik. Eine befreundete Französin, die mit ihrem zehnjährigen Sohn gerade für ein paar Tage aus Paris nach Berlin kam, wollte sich den U-Bahnhof Hermannplatz, jedenfalls am Abend, kein zweites Mal zumuten. Dabei ist die gestandene Ex-Anarchistin, die lange im Pariser Stadtteil Belleville, einem klassischen Einwandererbezirk, lebte und ihre Doktorarbeit über die RAF schrieb, kein weltfremdes Mädchen vom Dorf.

Doch Berlin ist selbst für Globetrotter, die schon Mexico City, Kalkutta und Luanda überlebt haben, immer wieder eine echte Herausforderung. Schon bevor sie das Wort „Schienenersatzverkehr“ in seiner ganzen Bedeutungsvielfalt und dramatischen Konsequenz begriffen haben, lernen die Menschen aus aller Welt den Berliner Ellbogen kennen, gern auch in Kombination mit Rucksack und verschmutzter Plastiktüte. „Könnse nich’ aufpassen, Mann?!“

Umgekehrt beobachten die Berliner mit Staunen, wie sich ihre Stadt in eine Art Wildlife-Freizeitpark für die Jugend der Welt verwandelt, in eine Vergnügungszone für junge Engländer, Franzosen, Italiener und Spanier, die zu Hause ganz brav sind, aber in der hippen deutschen Hauptstadt mal richtig die Sau rauslassen können.

Vor allem in den Szenebezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ziehen sie in großen Gruppen durch die Straßen, zuweilen in Form sogenannter „pub crawls“, die nur ein revolutionäres Kampfziel kennen: möglichst viele Bars und Kneipen zu absolvieren, bevor der Alkoholpegel absolute körperliche Grenzen setzt.

Beim Lärmpegel existieren solche Grenzen nicht, und viele Mittebewohner sind schon des Nachts aufgeschreckt, weil sie glaubten, unter ihrem Fenster ziehe eine militante Spontandemonstration gegen die verheerenden Folgen der Globalisierung vorbei. Manch einer dieser Touristen ist beim Vollzug seiner Freizeitgestaltung schon betrunken in eine jener schlecht gesicherten Berliner Baugruben gefallen, die auch tagsüber für viel Freude an abwechslungsreicher Streckenführung sorgen.

Apropos Baustelle, genauer: Dauerbaustelle. Sie gehört zu Berlin wie Currywurst und Bulette. Neben den unnennbaren Unzuträglichkeiten, die sie vor allem für Anwohner und Autofahrer mit sich bringen, gibt es eine rätselhafte ortstypische Spezialität: Nach monate- und jahrelangen Verzögerungen, die an den Nerven aller Betroffenen zerren, ist irgendwann dann doch noch alles fertig geworden – bis auf einen kleinen Rest. Dabei kann es sich um einen Sandhaufen handeln, um Reste von Baumaterial, gerippeartig verbogene Absperrungsgitter, schlichte Steinhaufen oder vulgären Bauschutt. Rasch gesellt sich Sperrmüll dazu, und so breitet sich ein Baustellenbiotop aus, das manchmal erst nach monatelangem natürlichem Wachstum weggeräumt wird, wie von Zauberhand.

Wir sehen: Berlin ist die Hölle.

Aber es gibt Tage, da ist Berlin der Himmel. Frühlings- oder Sommertage, Abend- und Nachtstunden, in denen all das vergessen ist, der Dreck, der Lärm, die Kampfradler, Asphalt-Pilger und Dauerbaustellen. Dann ist Berlin ein Traum, die Leichtigkeit des Lebens selbst, in der alles möglich scheint. Eine Welt für sich, zugleich weit und offen bis hintern Horizont.

Ja, geben wir es zu: Dann ist Berlin sogar aufregend und gemütlich zugleich, das heißt, frei nach Ernst Bloch, jene „Heimat“, worin angeblich noch niemand war.

Die reine Utopie.

Im nächsten Augenblick aber kommt wieder der Mann mit dem Laubbläser um die Ecke, und von irgendwoher ruft jemand: „Verdammt, könnse nich’ aufpassen!?!“

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