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Meinung: Im Dunkel des Menschen

Die Tat des Kannibalen war im Gesetzbuch nicht vorgesehen – und zieht doch viele an

Der ganze Vorgang ist eine ungeheure Zumutung. Erst das Verbrechen selbst, dann das Spektakel, das ihm folgte. Und nun das Urteil, das bei vielen keinen Frieden stiften wird. Was dabei ans Tageslicht kam, gab und gibt doch nur immer neue Blicke in Abgründe der menschlichen Seele frei.

Auch beim Bemühen um Verständnis für die Not der Richter liegen Gefühl und Verstand im Streit miteinander. Viele Menschen werden die achteinhalb Jahre instinktiv als zu geringe Strafe empfinden – gemessen an der Monstrosität des Verbrechens. Schon die Debatte, ob es sich um Tötung auf Verlangen handele, mit einer Maximalstrafe von nur fünf Jahren, wirkte abstoßend. Und ebenso die Erwägungen, warum Mord nicht in Betracht komme – das wurde verworfen, weil die spätere sexuelle Erregung des Täters über die Videoaufnahmen, die er von der Tat gemacht hatte, zeitlich zu weit entfernt lag, um daraus ein „verwerfliches“ Motiv für die Tötung abzuleiten.

Aber vielleicht öffnet das Ringen um den juristisch adäquaten Umgang mit dem Fall einen symbolischen Zugang. Für das Töten eines Menschen, um ihn aufzuessen, gibt es keinen speziellen Strafrechtsparagrafen. Weil dieser Kulturbruch so weit außerhalb der angenommenen Realität liegt – wenn auch nicht außerhalb der menschlichen Fantasie?

Dass die Menschen, allen kulturellen Errungenschaften zum Trotz, keine Engel sind, weiß das Strafrecht: Mord, Raub, Diebstahl, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch von Kindern in allen Varianten, Störung der Totenruhe – selbst für die abscheulichsten Taten hat der Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen. Nun mag man denken: Das gibt es halt – Verbrechen, die einmalig sind oder vielleicht nur einmal in hundert Jahren verübt werden, zumindest in unserem Kulturkreis und jedenfalls, solange es nicht um die aus der Schiffbrüchigen-Literatur bekannte Todesnot geht. Kein Wunder also, dass dies in der Systematik des Strafgesetzbuchs nicht explizit vorgesehen ist. Und im Übrigen wiederhole sich Kannibalismus nicht so leicht.

An einer solchen hoffnungsvollen Annahme darf man doch seine Zweifel haben. Sie ergeben sich aus dem Netz von E-Mail- Kontakten, die dieser Fall offenbarte. Eine kaum glaubliche Zahl von Freiwilligen hatte sich dem Täter als Schlachtopfer angeboten. War es für sie alle nicht mehr als das Ausleben einer Fantasie – so tun, als ob – im sicheren Wissen, dass die letzte Grenze schon nicht überschritten werde? Oder war da doch die Bereitschaft, sich auszuliefern?

Der Umgang der Medien mit dem Fall lässt ahnen, dass da eine Welt geöffnet wurde, die sich nicht ohne weiteres wieder verbarrikadieren lässt. Eine Welt, die für manche auf schaurige Weise anziehend wirkt, weil sie mit so vielen Ängsten, Fantasien und Mythen belegt ist – und auch noch das Sexuelle einbezieht, die vielleicht mächtigste und zugleich geheimnisvollste Triebfeder des Menschen. Armin Meiwes jedenfalls wurde wie ein Popstar behandelt, schaffte es auf den Titel eines Magazins mit Millionenauflage und wurde durch unzählige Fotostrecken und Fernsehberichte berühmt. Gewiss, das Interesse galt weniger dem Menschen in seiner krankhaften Besessenheit als seiner Tat, weil die so unfassbar war. Erst diese Aufmerksamkeit macht einen Unbeachteten zum Star. Das erhöht die Nachahmungsgefahr.

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