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Islam: Unverhüllte Fundis

Islam und Demokratie: Das Kopftuchurteil in der Türkei ist eine Katastrophe meint Thomas Seibert.

Es ist eine der spannendsten Fragen unser Zeit, die Millionen von Menschen in der Türkei und in der ganzen Welt bewegt – welche Rolle soll und darf der Islam in einer Demokratie spielen? Wenn es nach dem Verfassungsgericht in Ankara geht, darf in der Türkei, einem zu 99 Prozent muslimischem Land, darüber nicht mehr diskutiert werden. Mit dem Kopftuchurteil maßen sich die Verfassungsrichter die Interpretationshoheit über den Laizismus an. Dabei berufen sich Justiz und die Armee auf eine heilige Pflicht zum Widerstand gegen demokratisch gewählte Gremien wie Parlament und Regierung: Wählen dürfen die Türken, aber wichtige Dinge entscheiden dürfen sie nicht. Das ist ein Staatsverständnis jenseits aller EU-Normen.

Man kann darüber streiten, ob es türkischen Studentinnen erlaubt werden soll, mit dem Kopftuch zu studieren, so wie das muslimische Frauen in Westeuropa dürfen. Es handelt sich um mündige Bürger, die man nicht wegen ihrer Kleidung oder Religion von der Bildung ausschließen dürfe, sagen die Erdogan-Leute. Es ist der Anfang einer Islamisierung der Republik, sagen die Erdogan-Kritiker. In der Debatte über diese Frage könnte die Türkei ihre Identität als islamische Demokratie finden.

Aber das Urteil des Verfassungsgerichts soll diese Diskussion jetzt beenden. Laizismus ist, was die Hohepriester des Kemalismus in Justiz und Armee dafür halten. Punkt. Wenn die Mehrheit der Wähler und der Parlamentsabgeordneten das anders sieht? Pech gehabt.

Als die Türkei 1923 gegründet wurde, gehörten Laizismus und Demokratie zusammen: Beide lösten ein System ab, in dem der Sultan als Herrscher gleichzeitig auch Kalif war, also geistiges Oberhaupt der Muslime. Inzwischen ist die Lage im Land anders. Laizismus und Demokratie sind längst nicht mehr ein und dasselbe. Die Kemalisten, die sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen, sind zu Fundamentalisten geworden. Ihnen stehen konservative Demokraten gegenüber. Es ist kein Zufall, dass die türkischen Kemalisten gegen mehr Meinungsfreiheit und gegen mehr Rechte für die Christen im Land ins Feld ziehen.

Für die Kemalisten ist es unerheblich, wer Wahlen gewinnt. Der „Staat“, dessen Werte und Normen allein sie festlegen, bleibt aus ihrer Sicht von Wahlergebnissen unberührt; nach ihrem Verständnis ist es auch richtig, dass die größte Partei des Landes verboten wird, wenn sie in der Kopftuchfrage von der reinen kemalistischen Lehre abweicht. Grundfragen der Republik sind zu wichtig, als dass sie den anatolischen Massen anvertraut werden könnten, so lautet die Botschaft.

Mit seinem Urteil hat das Verfassungsgericht nach Meinung vieler Rechtsexperten selbst die Verfassung gebrochen, weil es seine Befugnisse bei der Prüfung von Parlamentsbeschlüssen überschritten hat. Den Kemalisten ist das egal. Doch für die türkische Demokratie und den EU-Kurs des Landes ist das eine Katastrophe. Ein Land, in der die Justiz so eindeutig politisch Partei ergreift und auf die Verfassung pfeift, kann nicht darauf hoffen, große Fortschritte bei den Beitrittsgesprächen zu machen. Aus kemalistischer Sicht ist auch das kein Beinbruch, im Gegenteil. In einer europäisierten Türkei müssten die Kemalisten ihr Monopol auf den „Staat“ aufgeben. Und das wollen sie auf keinen Fall.

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