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Die plötzliche Hitze lockt die Menschen aus ihren Wohnungen.

© dpa

Kolumne "Ich habe verstanden": Hitze ist Nährstoff für Idiotie

Plötzlich ist er da, der Sommer. Vielleicht etwas zu plötzlich, findet Matthias Kalle. Denn vielen Menschen scheint die Hitze nicht gut zu tun – und im Fernsehen laufen auch nur reihenweise Sendungen aus der Wiederholungskiste.

Es ist wirklich nicht so, dass ich es als meine Aufgabe ansehe, für schlechte Laune zu sorgen, wirklich nicht. Mein Job soll den Menschen Freude bringen – das ist der Anspruch. Aber seit zwei Tagen, seit dieser Frühling ein Sommer ist, denke ich die ganze Zeit: Nee – so haben das die Leute doch auch nicht gewollt.

Zugegeben: Es schlug ein wenig aufs Gemüt, der Regen, die Kälte, das Grau – aber der totale Umschwung ist dann auch etwas übertrieben, ja, man muss es eigentlich unrealistisch nennen. Und ich habe das Gefühl, dass die Menschen mit diesem Plötzlichen nicht so richtig gut zurecht kommen: die Sonne, die Hitze – das alles überfordert sie. Man muss das verstehen. Auf einmal taugt die Jacke, der Pulli nicht mehr – aber wo ist das T-Shirt, der Rock, die Bluse? Bis vor kurzem kam man ohne Deo aus (aus gesundheitlichen Gründen, denn die Meldungen über gefährliche Stoffe nehmen kein Ende), wer aber jetzt immer noch darauf verzichtet, erweist sich als rücksichtsloser Bürger. Ein Vorteil des schlechten Wetters bestand auch darin, dass viele zu Hause geblieben sind – davon profitieren ja fast alle, dann ist es nicht so voll in der Stadt. Aber seit Mittwoch muss fast jeder Berliner ganz dringend zur Arbeit, zum Arzt, zur Uni – und zwar um Punkt neun. Und er nimmt dafür das Fahrrad.

Es geht mir jetzt nicht darum, mich auf die Seite einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern zu stellen, weil ich nicht glaube, dass eine Gruppe besser oder schlechter ist als eine andere. Ich glaube, dass es in jeder Gruppe von Verkehrsteilnehmern Vernünftige und Idioten gibt und wahrscheinlich halten die sich auch die Waage. Ich glaube aber auch, dass manchen Menschen die Hitze nicht gut tut – egal, ob sie im Auto sitzen oder auf einem Sattel oder zu Fuß gehen. Hitze ist Nährstoff für Idiotie – das sollte man nicht vergessen, wenn man den Sommer bejubelt.

Ist das Online-Fernsehen die Lösung?

Weshalb ich dem Sommer auch eher skeptisch gegenüberstehe, liegt an den Wiederholungen. Ja ja, ich weiß: alles im Leben kehrt wieder, und manchmal hat das seine Vorteile, aber für das Fernsehen gilt das leider nicht. Alle Sender greifen im Sommer in ihre Wiederholungskisten und zeigen uns Sachen, die man vor Jahren schon nicht sehen wollte. Vielleicht denken die, dass bei gutem Wetter eh keiner Fernseh guckt, da können wir auch die ollen Kamellen zeigen. Dass aber vor dem Fernseher manchmal der beste Platz ist, um der Idiotie (siehe oben) aus dem Weg zu gehen, das wird oft vergessen. Ist das sogenannte Online-Fernsehen da also eine Lösung? Darüber jubeln ja viele, einige sprechen von einem regelrechten „Boom“ („Süddeutsche Zeitung“). Das liegt vor allem an der Meldung, dass das amerikanische Videoportal Netflix angekündigt hat, nach Deutschland zu expandieren. Netflix ist verantwortlich für die grandiose Serie „House of Cards“, die man in Deutschland weder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch bei den freiempfangbaren Privatsendern sehen kann, sondern zum Beispiel bei Sky. Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt am Donnerstag, die Expansion von Netflix sei ein „Symbol für etwas Größeres: für eine Revolution der Sehgewohnheiten.“ Dank Videoportalen hätte jetzt das Publikum die Macht und müsse sich nicht mehr abhängig machen von einem Medium, dass ihm diktiert, wann Nachrichten und Spielfilme kommen.

Eine Sache wird dabei allerdings vergessen: Die Gleichzeitigkeit, das unmittelbare Erleben. Etwas passiert – und ich bin durch den Fernseher mit dabei. Live. In Farbe. Ich sehe, wenn die Dinge schief laufen, ich sehe aber auch, wenn etwas gelingt – die Einschaltquoten während der kommenden Fußball-WM werden nicht deshalb so hoch sein, weil sich 20 Millionen Deutsche für Fußball interessieren – sondern weil 20 Millionen Deutsche bei etwas dabei sein wollen, was in dem Moment ganz woanders passiert. Das ist die alte Magie des Fernsehens, das ist der Zauber dieses Geräts. Ständige Verfügbarkeit ist vielleicht doch eher Fluch als Segen. Stellen Sie sich nur einmal vor, es wäre dauernd Sommer.

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