zum Hauptinhalt
Für schuldunfähig erklärt: Anders Behring Breivik.

© dpa

Kontrapunkt: Die Pathologisierung des Bösen

Keiner will in einer Welt leben, in der aus normalen Menschen ein Breivik wird. Das Böse darf weder banal noch normal noch monströs sein, sagt Malte Lehming. Doch von der Geisteskrankheit zur Schuldunfähigkeit führt kein direkter Weg.

Jorid Nordmelan ist Norweger. Er hat das Massaker von Utöya überlebt. Als er hörte, dass Psychiater den Massenmörder Anders Behring Breivik für unzurechnungsfähig erklärt haben, sagte er: „Ich bin eigentlich froh über seine Einstufung als geisteskrank. Wer sonst könnte so etwas tun, was er getan hat?

„Ein ganz normaler Tag“: So heißt die deutsche Fassung des Films „Falling Down“ (1993) mit Michael Douglas in der Hauptrolle. Der Plot ist schnell erzählt. Bills Ehe ist gescheitert, seit seiner Scheidung wohnt er wieder bei seiner Mutter, seine kleine Tochter darf er nicht besuchen. Obwohl er vor kurzem arbeitslos wurde, verlässt er jeden Morgen, geschniegelt und gestriegelt, das Haus, damit seine Mutter keinen Verdacht schöpft. An diesem Tag hat seine Tochter Geburtstag. Bill sitzt bei brütender Hitze in seinem Auto im Stau. Das Radio ist kaputt, die Fenster lassen sich nicht öffnen, eine Fliege schwirrt um seine schweißnasse Haut.

Bill steigt aus, lässt seinen Wagen im Stau stehen, läuft die Böschung neben der Autobahn hoch und verschwindet. Das Unheil nimmt seinen Lauf. Am Ende sind viele Menschen verwundet und tot. Aus Normalo-Bill war ein Brutalo-Amokläufer geworden. Zum Schluss findet er Exfrau und Tochter wieder. Er umarmt sie. Seine Exfrau meint, er sei krank und brauche Hilfe. „Ich und krank?“, antwortet Bill. „Geh’ doch mal in die Stadt, da sind alle krank.“ Dann wird er von der Polizei erschossen.

Der Clou an dem Film: Ein Stück Bill steckt in jedem. Die Spirale aus Trauer, Versagen, Zorn und Aggression kann eine so starke Dynamik entwickeln, dass sie kaum noch zu durchbrechen ist. Der Zuschauer verlässt das Kino und fragt sich, warum es nicht mehr solcher Bills gibt. Er spürt, wie dünn zwar der Firnis der Zivilisation ist, aber im Regelfall eben trotzdem die Auswüchse emotionaler Eruptionen zu bändigen vermag. Ein Schrecken. Ein Wunder.

Paragraph 20 unseres Strafgesetzbuches definiert die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Spöttisch ließe sich das so kommentieren: Je irrsinniger die Tat, desto schuldunfähiger der Täter.

Doch das Problem bei der Pathologisierung des Bösen ist ein anderes. Die Psychiater haben bei Breivik eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Der Bericht als Ganzes bleibt bis zum Beginn des Hauptprozesses am 16. April unter Verschluss. Er lässt sich also nur unter Vorbehalt kommentieren. Die zentrale Frage lautet: Wie lückenlos ist die Kette von der Diagnose geisteskrank bis zur Conclusio schuldunfähig? Oft wird so getan, als ob das zweite automatisch aus dem ersten folgt. Doch das stimmt nicht.

Es geht nicht um Unrecht und Einsicht, sondern um Gesetzeswidrigkeit und Erkenntnis

Der deutsche Gesetzestext ist etwas schwammig. Der schuldunfähige Täter, heißt es da, müsse unfähig sein, „das Unrecht der Tat einzusehen“. Genau genommen müsste die Bestimmung lauten, „das Gesetzeswidrige der Tat zu kennen“. Denn es geht nicht um Unrecht im allgemeinen und um Einsicht, sondern um Gesetzeswidrigkeit und Erkenntnis. Einmal zugestanden, Breivik sei tatsächlich paranoid schizophren und habe deshalb 77 Menschen ermordet, so wird er das womöglich als richtig im Sinne von geboten empfunden, also kein Unrechtsbewusstsein gehabt haben. Doch es gibt viele Indizien, die darauf deuten, dass ihm sehr wohl klar war, dass seine Taten den Gesetzen seines Landes zuwiderlaufen.

Breivik hatte stets Angst, entdeckt zu werden. Als er mit Düngemitteln die Bombe baute, ging er vorsichtig und präzise vor. Er weihte niemanden ein. In seinen Vernehmungen berichtet er stolz, wie es ihm immer wieder gelang, die Ermittlungsbehörden zu überlisten. Regelmäßig schaltete er sein Handy aus. Das alles legt den Schluss nahe, dass ihm durchaus klar war, mit seiner Tat gegen das geltende Recht zu verstoßen, obgleich er das Unrecht seiner Tat im allgemein-moralischen Sinne womöglich nicht einsah. (Bittere Ironie am Rande: In seinem Manifest „2083. Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“ hat Breivik die Ereignisse vorausgeahnt. „Sie werden mich für verrückt erklären. Glaubt es nicht“, schrieb er.)

Ein Paradox des Bösen lautet: Je näher man ihm kommt, desto unsichtbarer wird es. Natürlich gibt es das Böse – in Form von Gewalt, Mord, Vergewaltigung, Missbrauch, Raub. Aber seltsamerweise gibt es kaum jemanden, der einen bösen Menschen kennt. Beim Stockholm-Syndrom etwa entwickelt sogar das Opfer einer Geiselnahme ein positives Verhältnis zum Geiselnehmer. Nähe verblendet. Etwas Starkes in uns wehrt sich dagegen, das konkrete Verhalten eines uns nahen Menschen als böse zu charakterisieren.

Keiner will ein Breivik oder Bill sein. Keiner will in einer Welt leben, in der aus normalen Menschen ein Breivik oder Bill wird – der eine kalt planend, der andere affektgetrieben. Das Böse darf weder banal noch normal noch monströs sein. Diesem Wunsch entsprechen jene, die den vermeintlich Wahnsinnigen exkulpieren. Die norwegischen Gerichtspsychiater haben insgesamt 36 Stunden mit Breivik verbracht. Einige US-Bundesstaaten wie Montana, Idaho, Kansas und Utah haben die Verteidigungsstrategie, auf unzurechnungsfähig zu plädieren („insanity defense“), gleich ganz gestrichen. Das geht zu weit. Doch Psychiater können allenfalls eine seelische Krankheit feststellen. Was aus dieser Diagnose folgt, darüber müssen andere Instanzen urteilen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false