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LEICHTS Sinn: Ein törichter Satz erledigt jeden Redner

Heute kommt es darauf an, beim politischen Konkurrenten oder bei ungeliebten Autoren einige gar törichte Sätze bloßzustellen. Der Platz für Differenzierung in unseren Debatten ist verloren gegangen.

In meinen ersten Redakteursjahren imponierte mir auch der Kollege Christian Schütze bei der Süddeutschen Zeitung. Er wandte nämlich das von Theodor Lessing formulierte Prinzip der „Geschichte als Sinnstiftung des Sinnlosen“ auf die Berichterstattung über öffentliche Reden an. Irgendjemand hatte sich bei ihm beschwert, dass aus seinen Reden in den Zeitungsberichten immer nur wenige Sätze vorkommen. Das, so Schütze, sei jedoch gerade sein Glück! Denn kein Reporter könne sich mit Berichten sehen lassen, in denen all das sinnlose Zeug steht, was die Redner so verzapfen. So suche er sich mit Fleiß die ein, zwei sinnvollen Aussagen heraus, um seinen eigenen Ruf zu wahren - womit er allerdings beim Publikum den Eindruck erwecke, der Redner habe insgesamt nur gescheite Sachen gesagt. Sinnstiftung durch Verkürzung, so nannte Schütze dieses Wirkprinzip.

Man erkennt sofort, dass das Schütze-Prinzip vor fast vier Jahrzehnten formuliert wurde. Heute kommt es umgekehrt darauf an, beim politischen Konkurrenten oder bei ungeliebten Autoren die eine schiefe Aussage oder die wenigen gar törichten Sätze bloßzustellen – und damit den Eindruck zu erwecken, der Betreffende habe überhaupt nur dummes oder böses Zeug gesagt, so dass nicht nur seine schwächsten Argumente erledigt sind, sondern am besten der ganze Kerl gleich mit. Diesem Prinzip zufolge kann dann die Kanzlerin auch sagen, sie habe das Buch eines gewissen Herrn S. gar nicht gelesen, denn die Vorabdrucke hätten ihr gereicht – als ob nicht gerade die Auswahl von Vorabdrucken genau dem auf den Kopf gestellten Schütze-Prinzip folgte: Das Skandalöse nach vorn – damit die Leute glauben, das ganze Buch sei so skandalös. Nach demselben Prinzip kann dann der SPD-Chef Sigmar Gabriel dem Herrn S. wegen einiger ungarer Genetik-Thesen vorwerfen, er sei insgesamt ein verworfener und hinauszuwerfender Rassist – und im selben Atemzug dessen Behauptungen über die unzureichend gelungene Integration nachbeten, ohne das zuzugeben.

Warum ist es in unseren politischen Streitigkeiten und sogenannten intellektuellen Debatten so schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu sagen: Frau X. oder Herr Y., die Regierung oder die Opposition hat da wohl auch einige bedenkenswerte Sachen gesagt, aber bestimmte Überspitzungen oder Fehlleistungen zwingen uns dann doch, die Sache, jedenfalls diesen Teil der Sache abzulehnen? Warum glauben so viele Leute, sie fänden nur Gehör oder karriereförderliches Profil, wenn sie den einen Gesichtspunkt aus dem Zusammenhang reißen, vermittels dessen man die ganze Chose (oder die Person als solche) in die Tonne treten kann? Muss das vorrangige Auswahlprinzip der publizistischen Verwertung immer das Schärfste, das Skandalöseste, das Streitträchtigste – also der „Knaller“ zuerst – sein, das den Rest an eventuell vorhandener Differenzierung gnadenlos unter den Tisch fällen lässt?

Meine Studenten lehre ich, die seriöse geistige Auseinandersetzung fange damit an, dass man in der einen Spalte eines Zettels die Stärken im Argument des Widersachers notiert und in der anderen die schwachen Punkte in der eigenen Auffassung. Erst dann soll man anfangen zu denken, zu meinen, gar zu schreiben oder Reden zu halten. Solange dieses Leicht-Prinzip in der politischen Auseinandersetzung nicht befolgt wird, langweilen mich diese angeblich intellektuellen Debatten in ihrer sterilen Aufgeregtheit zutiefst. Und Texte, Reden oder Zeitungsartikel, in denen das einigermaßen stubenreine Gegenüber nur als ausschließlich dumm dargestellt wird, lese ich schon lange nicht mehr.

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