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Meinung: Kindesmissbrauch: Wo Grenzen sind

Wer zu zählen anfängt, wird nicht aufhören können. Erst vereinzelt, dann dutzendweise, jetzt hundertfach kommen die Fälle sexuellen Missbrauchs an Ordensschulen ans Tageslicht. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich auszumalen, welche Geschichten noch zu hören sein werden, wenn um eine Entschädigung für die in deutschen Kinderheimen misshandelten Zöglinge gerungen wird.

Wer zu zählen anfängt, wird nicht aufhören können. Erst vereinzelt, dann dutzendweise, jetzt hundertfach kommen die Fälle sexuellen Missbrauchs an Ordensschulen ans Tageslicht. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich auszumalen, welche Geschichten noch zu hören sein werden, wenn um eine Entschädigung für die in deutschen Kinderheimen misshandelten Zöglinge gerungen wird. Und all dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der grausamen Wirklichkeit: Sexueller Missbrauch ist ein Massendelikt. Staat und Gesellschaft haben die Aufgabe, gerade die Wehrlosen mit aller Kraft zu schützen. Wovon die meisten Kinder sind.

Wird der Staat seiner Aufgabe gerecht? Der jüngste Vorstoß richtet sich gegen die Kinderpornografie im Internet, und er vermittelt einen verstörenden Eindruck. Unter viel Mühen und Ächzen hat sich die Politik ein Gesetz zum Seitensperren gebastelt, das sie nun per Regierungsdekret wieder aussetzen will, sobald es in Kraft tritt. Es ist nutzlos, sagen alle. Wir brauchen das, hieß es noch kurz zuvor. Das Tempo des politischen Meinungswechsels wird nur noch von der Datenrate im Internet übertroffen.

Dabei wäre Gelassenheit ratsam. Wenn das Gesetz jetzt mit des Präsidenten Weihe verfügbar ist, könnte man es befristet ausprobieren und evaluieren. Das soll nicht gehen, weil man es auf Drängen der FDP im Koalitionsvertrag anders verabredet hat? Mag sein, aber dann zeigt es, dass es wieder viel um Prestige und wenig um die Sache geht. So wie auch beim angekündigten Löschgesetz. Das hört sich an, als befände sich neben den Paragrafen eine Delete-Taste, mit der unerwünschte Inhalte zu tilgen wären. In Wahrheit geht es um Regeln, die Verwaltungsabläufe verbessern sollen. Wenn das Sperrgesetz Symbolpolitik gewesen sein soll, dann wird es das Löschgesetz erst recht: Der nationale Gesetzgeber ist dem globalen Datenstrom ausgeliefert. Lenken und kontrollieren kann man ihn nur im Bund mit anderen Staaten. Hier sind die Debatten zu führen.

Tut der Staat also genug gegen Missbrauch? Er versucht zumindest viel. Die Strafen sind hart, die Richter streng, die Ermittler fleißig. Längere Verjährungsfristen kann man diskutieren. Aber zwischen Missbrauch und Missbrauch können Unterschiede liegen, die ein Rechtsstaat nicht ignorieren darf.

Und die auch eine Gesellschaft nicht ignorieren sollte. Was ihr schwerfällt, denn Kindesmissbrauch ist das letzte große sexuelle Tabu. Das Tabu ist stärker geworden, je mehr die anderen Tabus geschleift worden sind. Das Internet ist, bei allen Segnungen, die es mit sich bringt, in diesem Punkt ein vollständig entgrenztes Medium, in dem sich auch Kinder und Jugendliche frei bewegen. Aus gutem Grund feiert das niemand als nötige Intimrevolution wie die Pille oder die soziale Akzeptanz von Homosexualität. Das Experiment, was das Netz aus dieser Jugend macht, hat gerade erst begonnen. Wir sollten es mit Skepsis begleiten.

So nötig, wie es deshalb ist, mit den Kindern über echte und mediale Sexualität zu reden, so wichtig ist es auch, über den Umgang mit Pädophilen zu sprechen. Viele sind Menschen, die leiden. Der „Sextäter“ ist nicht die Regel. Aufklärung darüber, was Medizin, Therapie und Wissenschaft für diese Männer – Frauen sind es selten – leisten können, ist hilfreicher als der Ruf nach ihrer Bestrafung und Isolation. Es geht nicht darum, das Tabu des Kindesmissbrauchs zu schwächen. Aber man sollte die Menschen annehmen, bevor sie zu Tätern werden.

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