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Baden-Württemberg: Modell der Möglichkeiten

Ein Regierungswechsel in Baden-Württemberg erscheint möglich – er wäre eine Zäsur. Was ist geschehen, dass die landesübliche Mentalität plus hohe Wachstumsraten und Daimler und Bosch keine bebenfeste Wahlprognose mehr ergeben?

Achtundfünfzig Jahre, nicht weniger als vierzehn Wahlen lang war der Wahltag in Baden-Württemberg ein Datum, das wenig Aufregung stiftete. Denn veränderbar waren nur die Stimmenanteile, gleich blieb die Partei, die gewann: allemal stellte die CDU den Ministerpräsidenten, in den Glanzzeiten der alten Bundesrepublik oft sogar mit absoluter Mehrheit. Mit dem bevorstehenden Sonntag hat das Land zumindest wahlprognostisch das Ende aller Sicherheiten erreicht: Umfragen und Stimmung lassen einen Regierungswechsel möglich erscheinen. Er würde, keine Frage, für das Land eine tiefe, nach Maßgabe seiner Nachkriegsgeschichte kaum vorstellbare Zäsur bedeuten.

Ist in Baden-Württemberg die Welt nicht mehr in Ordnung? Keine Rede davon: Das Land floriert und glänzt bundesweit mit Wirtschaftsdaten, Steuereinnahmen sowie seinem üppigen Selbstbewusstsein nach dem hintersinnigen Motto: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Und hat sich etwa die Mixtur geändert, die die Stärke des Landes begründet – die Verbindung von Fleiß, Sparsamkeit, kräftigem Eigensinn und produktiver Bodenständigkeit? „Wir in Baden-Württemberg“, hieß die Fanfare, unter der die CDU einst siegte. Gibt es dieses „Wir“ nicht mehr? Aber Schwaben und Badener haben sich nicht geändert.

Was ist geschehen, dass die landesübliche Mentalität plus hohe Wachstumsraten und Daimler und Bosch keine bebenfeste Wahlprognose mehr ergeben? Eine schwache Landespolitik? Es ist wahr, dass man Stefan Mappus nicht ohne Weiteres mit seinen Vorgängern vergleichen mag – dem Sonnenkönig Kurt Georg Kiesinger, dem Landesherrn Hans Filbinger, dem Macher Lothar Späth, der die „Politik zum Anfassen“ erfand, und der zähen wie klugen politischen Instanz Erwin Teufel.

Doch wenn etwas an Baden-Württemberg rüttelt, dann sind es eher Stürme im kollektiven Bewusstsein – die Wutbürger-Explosion, die das Projekt Stuttgart 21 gezündet hat, und die wieder emporgeschossene Antiatombewegung, die sich auf die japanische Tragödie beruft. Die Landtagswahl wird zum Kampfplatz für Auseinandersetzungen, deren Epizentrum jenseits des Landes liegt. Und natürlich – wie es im deutschen Föderalismus so üblich ist – zur Probebühne für die Bundespolitik. Wobei nicht nur die Opposition mit der Ausstiegsparole diese Mechanik nutzte, sondern auch die Kanzlerin, als sie die Wahl zur Abstimmung über Stuttgart 21 machte.

Landtagswahl gegen Plebiszit, Landespolitik gegen Erregungsschübe: Das wäre dann das Subthema dieses Wahlgangs. Wie stark ist die erprobte Struktur im Südweststaat noch, wie massiv wirken die aktuellen Erschütterungen unseres politischen Systems? Setzen sich die Alltagsthemen der Politik durch oder gehen sie in den Wogen von Furcht und Wende-Sehnsucht unter? Wäre davon nur das Land zwischen Heilbronn und Lörrach betroffen? Der „Modellfall deutscher Möglichkeiten“ (Theodor Heuss über Baden-Württemberg) erprobt am Sonntag eine neue Möglichkeit der deutschen Politik.

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