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Der kolumbianische Spieler James Rodriguez tauchte im Kapitel über die WM-Superstars nicht auf, er wurde es trotzdem.

© dpa

Die Faszination der WM 2014: Momente des Kontrollverlustes

Am Sonntag geht die Weltmeisterschaft in Brasilien zu Ende. Zeit, um wieder früher ins Bett zu gehen oder mal ein Buch zu lesen. Fernsehkritiker Matthias Kalle fehlt das Spektakel allerdings bereits. Denn die Mischung aus Inszenierung und Kontrollverlust beim Fußball ist einzigartig.

Irgendwie weiß ich so gar nicht, was ich machen soll, wenn am Sonntag die Fußballweltmeisterschaft vorbei ist. Ich meine: Natürlich weiß ich, dass ich dann wieder früher ins Bett gehen kann, ein Buch lesen, mit Menschen sprechen – solche Sachen. Aber aus professioneller Sicht wird es schwierig, also für mich als Fernsehkritiker. Irgendwann kommt dann ja doch wieder „Wetten, dass...?“, wenn auch nur noch dreimal.

Wenn ich die Wahl hätte zwischen einer Wetten-dass-Ausgabe und dem Vorrundenspiel Schweiz gegen Ecuador, dann würde ich mich immer für Schweiz gegen Ecuador entscheiden – und zwar samt Vor- und Nachberichten; und das liegt nicht daran, dass ich Fußball als Beschäftigung interessanter finde als das Anschrauben einer Glühbirne mit den Füßen. Es liegt daran, dass ich beim Schauen der Fußballweltmeisterschaft wieder daran erinnert wurde, warum das Fernsehen eine Sehnsuchtsmaschine ist, warum das Fernsehen in seinen besten Momenten größer ist als das Leben. Und gleichzeitig ärgere ich mich darüber, dass das Fernsehen selbst aus solchen Momenten nichts zu lernen scheint.

Aber vielleicht liegt es auch darin, dass diese Momente eine Mischung aus Inszenierung und Kontrollverlust sind: Es gibt Regeln, an die kann man sich halten, wenn man ein Fußballspiel überträgt (Wann welche Kamera, wie oft zeigt man welche Fans, wann die Trainer, wer soll kommentieren?), und es gibt die Protagonisten, die gegeneinander spielen und die sich jedem Regelwerk entziehen; der kolumbianische Spieler James Rodriguez tauchte im Kapitel über die WM-Superstars nicht auf, er wurde es trotzdem, und die Welt staunte; das Spiel der deutschen Nationalmannschaft im Halbfinale gegen Brasilien war etwas, dass niemals wiederkehren wird, singulär, historisch, überwältigend – kein Redakteur, kein Autor kann sich so etwas ausdenken. Es ist nicht planbar.

Kontrollverlust macht Fernsehen zum Ereignis

Und es ist live. Live und unplanbar bedeutet für das Fernsehen: Kontrollverlust. Das Medium ist dem, was passiert, hilflos ausgeliefert. Was für Programmverantwortliche schrecklich klingt, ist für den Fernsehzuschauer das größte Glück. Abseits des Fußballs waren die unplanbaren Kontrollverlustmomente in Livesendungen meistens die, an die sich die Zuschauer erinnern und die aus dem bloßen Zuschauen ein tatsächliches Ereignis machen.

Die Spiele der Weltmeisterschaft stellen zudem eine Gleichzeitigkeit her. Das Spiel, das ich gerade sehe, sehen in Deutschland mit mir über 20 Millionen. Und die Menschen in Südamerika, in Asien, in Afrika – die sehen auch gerade zu, die ärgern sich, die freuen sich, die schlafen währenddessen ein – und manche nutzen dabei noch Twitter, und neben all den Idioten und Chauvinisten und Krawallmachern sind dann auch die dabei, die mit ihren Ansichten und Bemerkungen aus einer Fernsehübertragung einen großen, besonderen Moment machen.

Was also bleibt von dieser Weltmeisterschaft, völlig egal, wer denn nun Weltmeister wird und völlig egal, wer das Finale wie kommentiert und auch völlig egal, wie nervig und dämlich manche Reporterleistungen waren? Dass es Momente gibt, die selbst das Fernsehen nicht kaputt machen kann – und zwar die Momente, denen das Fernsehen hilflos ausgeliefert ist.

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