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Mon Berlin: Nun ist es aber gut, 1968er!

Der schöne Monat Mai sieht seine Berufs-Achtundsechziger erblühen - und sie machen sich auch so gut im Fernsehen. Aber irgendwann muss auch mal wieder Schluss sein.

Wer hat was gehört? Wer kann berichten, was er gesehen hat? Wer war dabei? Oder ganz nah dran? Die Jagd auf Zeugen wird heutzutage als Leistungssport betrieben. Wer also etwas weiß, wird seinen Tag im Studio des Frühstücksfernsehens beginnen, die Nase von einer Visagistin gepudert, die Augen noch vom Schlaf verquollen. Den ganzen Tag über wird er von einer Talkshow zur anderen wirbeln und spätnachts bei einem Late Chat im Netz landen. Mit etwas Glück wird er am Sonntagabend dann bei Anne Will auf dem weißen Ledersofa thronen. Die höchsten Weihen. Man wird ihn von Hand zu Hand reichen. Wieder und wieder wird er dasselbe sagen. Erzählen Sie! Sprechen Sie sich aus! Je mehr intime Einzelheiten Sie uns liefern, desto heller werden Sie strahlen, eine richtige Sternschnuppe. Ein paar Minuten Fernsehglanz, bevor sie verglüht. Es gibt auch seltene Zeugen. Sie sind ebenso schwer zu finden wie eine etruskische Vase bei einer archäologischen Ausgrabung. Es gab einmal zig Millionen davon. Heute kann man sie an den Fingern einer Hand abzählen. Nehmen Sie die Überlebenden des Ersten Weltkrieges. Im November feiern sie den 90. Jahrestag des Waffenstillstands. Und es werden nicht viele sein. Um noch einen von ihnen zu finden, kann man nur auf ein Wunder der Natur hoffen. Der letzte „poilu“ der französische Landser starb am 12. März in Kremlin-Bicêtre, einem Vorort von Paris. Er hatte einen so schönen Namen: Lazare Ponticelli.

Er wurde 110 Jahre alt. Er hatte in Verdun gekämpft. Anscheinend gibt es in Süddeutschland noch einen Soldaten der Wilhelminischen Armee. Aber ist er denn auch appetitlich genug, dass er unter den Scheinwerfern von Reinhold Beckmann ausgestellt werden kann?

Es gibt andere Zeugen, die nicht mehr viel Zeit haben, ihre Geschichte loszuwerden. Die Überlebenden von 39–45 müssen sich beeilen. Sachte verlieren sie das Gedächtnis. Das gnadenlose Gesetz der Biologie wird sie in den kommenden Jahren auslöschen, einen nach dem anderen. Und außerdem ist ein noch jungfräulicher Zeuge des Zweiten Weltkrieges eine Seltenheit, da Guido Knopp sie fast alle verbraucht hat. Man muss lange suchen, bis man einen findet, der noch nicht vor dem beleuchteten Hintergrund in Großaufnahme aufgenommen wurde. Achtung, Sie haben 50 Sekunden, um das Trauma Ihres Lebens zu erzählen! Es folgen klagende Violinen.

Zum Glück sind in diesem Monat die Achtundsechziger an der Reihe! Weil sie sich wie Champignons im herbstlich-feuchten Unterholz vermehren. Sie sind einfach überall: im Fernsehen, in den Zeitungen, bei mondänen Einladungen, in den Buchhandlungen auf Regalen, die sich unter ihrem Gewicht biegen. Nehmen Sie nur die französischen Achtundsechziger, die heute die Presse beherrschen. Mit ihren schwarzen Lederschuhen, ihren pomadisierten Haaren und ihren Sportwagen erinnern sie an Zuhälter. Nehmen Sie Joschka Fischer mit seinen dreiteiligen Anzügen und seinem Siegelring am kleinen Finger. Die bürgerlich gewordenen Achtundsechziger machen sich gut im Fernsehen.

Ich muss zugeben, dass ich mich freue, wenn der Monat Mai vorüber ist und sie endlich wieder schweigen. Es kommt mir so vor, als wenn jeder zweitrangige Akteur, der es vor 40 Jahren gewagt hat, auf einem Pariser Boulevard einen Pflasterstein zu werfen, jeder Student, der auf dem Ku’damm dreimal Ho Chi Minh skandiert hat, jedes hübsche Wesen, das mit zwei Männern gleichzeitig geschlafen hat, sich legitimiert glaubt, die großen gesellschaftlichen Umwälzungen zu erörtern. Der Monat Mai sah seine Berufs-Achtundsechziger erblühen. In einer Radiosendung wurde Peter Schneider als „Original-Achtundsechziger der ersten Stunde“ bezeichnet, so wie man ein Bresse- Huhn mit einem Echtheitszertifikat versieht. Und Daniel Cohn-Bendit kommt mir bald vor wie mein Großvater, wenn er seine Kriegserlebnisse von 14–18 erzählte und sich auf die Schenkel schlug. Jeden Sonntag zum Kaffee. Und wir Kinder rannten zum Spielen ins Nebenzimmer.

Bis heute ist es so: Wenn ich auf einem Trottoir von Paris einen Mann mit grauen Schläfen sehe, wenn sich auf einer Straße von Berlin ein leicht gebeugter Herr mit einer schwarzen Leinenjacke nähert, sehe ich zu, dass ich die Straßenseite wechsele. Vorsicht! Noch einer, der mir von seiner wilden Jugend erzählen oder, noch schlimmer, sein Buch schenken will.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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