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Meinung: Netz und Gesetz: Der Mythos Cyber-Anarchie

Deutsche und Franzosen sehen rot, wenn Nazis ungestört ihre Parolen verbreiten dürfen. Die Musikindustrie gerät aus dem Häuschen, wenn jemand ihre Titel umsonst anbietet.

Deutsche und Franzosen sehen rot, wenn Nazis ungestört ihre Parolen verbreiten dürfen. Die Musikindustrie gerät aus dem Häuschen, wenn jemand ihre Titel umsonst anbietet. Die Amerikaner mögen es gar nicht, wenn ihre Glücksspielgesetze umgangen werden. Und die Chinesen wollen im Informationszeitalter zwar mit dabei sein, aber trotzdem sämtliche Informationen kontrollieren. Alle gemeinsam haben sie zum Feind das Internet - diesen gigantischen, grenzenlosen Kommunikationsraum, der sich von niemandem kontrollieren lässt, in dem es kein Eigentum gibt, sondern die Anarchie herrscht. So jedenfalls dachte man bisher darüber.

Etwa zwei Milliarden Webseiten lassen sich heutzutage anklicken. Auf ihnen ist alles zu sehen, was Menschen sich überhaupt ausdenken können. Und vieles ist im Netz kostenlos zu haben, wofür man im Geschäft bezahlen müsste. Die Cyber-Anarchisten haben diesen Zustand stets gepriesen. Jeder Versuch, Regeln und Gesetze im Internet anzuwenden, wurde von ihnen als untauglich verspottet. Im Internet lassen sich Verbote nicht durchsetzen: Diesen Mythos hält die Netz-Gemeinde hoch. Hat sie Recht?

Vor wenigen Monaten hat die Musiktauschbörse Napster behauptet, es sei absolut unmöglich, im Internet auf Copyright-Gesetze zu achten. Napster bietet 150 Millionen Musiktitel an, die sich die Benutzer der Webseite kostenlos auf ihren Computer laden können. Gegen diese Praxis haben mehrere Musikkonzerne in den USA geklagt. Kürzlich entschied das zuständige Bezirksgericht, Napster müsse all jene Titel blockieren, die von den Klägern genannt werden. Und plötzlich scheint genau das möglich zu sein. Napster blockiert jetzt diese Titel. Ganz grenzenlos und unkontrollierbar ist das Internet offenbar nicht.

Den Anfang jedoch hat Jean-Jacques Gomez gemacht. Ausgerechnet im Revolutionsland Frankreich wurde im vergangenen Herbst die Cyber-Anarchie erstmals in ihre Schranken verwiesen. Mit seiner Entscheidung schrieb Gomez, ein französischer Richter, Internet-Geschichte. Er verurteilte den großen amerikanischen Webseiten-Betreiber Yahoo dazu, dass niemand, der sich in Frankreich bei Yahoo einwählt, dort auf Nazi-Embleme oder andere Nazi-Propaganda stoßen darf. Auch in diesem Fall hat Yahoo zunächst behauptet, das ginge leider nicht, wurde aber bald eines Besseren belehrt. Im Dezember schließlich gab Yahoo bekannt, weltweit künftig alle Nazi-Memorabilien von seinen Seiten zu verbannen.

Denn technisch geht inzwischen eine ganze Menge. Viele Abläufe im Internet können durchaus kontrolliert werden. Firmen wie Infosplit beispielsweise haben eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe sich ein Webseiten-Benutzer lokalisieren lässt. Anschließend können dessen Zugriffe blockiert werden. Ein Benutzer in Land A erhält dann die entsprechende Information, ein Benutzer in Land B dagegen nicht. Auch dieses Verfahren lässt sich derzeit noch relativ einfach umgehen - ein Compuserve-Benutzer in Deutschland kann sich einfach in Amerika einwählen, um dort an die gewünschten Daten zu gelangen - aber die Entwicklung im Netz geht eindeutig in Richtung einer stärkeren Kontrolle. Im Internet wird emsig an Zäunen und Grenzposten gebastelt.

Warum auch nicht? Was spricht dagegen, dass man Kreditkarten-Unternehmen verbietet, Geld an die Betreiber von Kinder-Pornoseiten auszubezahlen? Was spricht dagegen, dass man Menschen, die im Ausland Webseiten anbieten, die im Inland verboten sind, bei der Einreise verhaftet und verklagt, obwohl sie im Inland - genau genommen - gar kein Verbrechen verübt haben? Was spricht dagegen, das man geistiges Eigentum wieder ein bisschen schützt und Aufrufe zum Rassenhass wieder ein bisschen eindämmt? Anarchie kann doch auch dann schön sein, wenn sie nicht ganz und gar grenzenlos ist. Ein paar Regeln machen noch keine Diktatur.

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