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Meinung: Occupy Buddha

Die Welt verändern? Sie interpretieren? In dieser Zeit ist es schon eine Kunst sie auszuhalten

Im März 1935 hielt Gertrude Stein in Chicago vier Vorträge. Sie gehören zum Verwirrendsten und Erhellendsten, was je über Literatur und Geschichte, Erinnerung und Gedächtnis, Lehre und Wissen gesagt wurde. Gertrude Stein sprach nicht nur ohne Punkt und Komma, sondern verzichtete auch schriftlich gern auf Interpunktionen, um den Leser zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Denn vor allem Rätsel beschäftigen den Geist. Bei Gertrude Stein klingt das so: „Ich sage Ihnen und ich kann es Ihnen nicht zu oft sagen obzwar ich es vielleicht nicht oft genug sage da jeder sogar ich seine Meinung ändern kann ich kann es Ihnen nicht oft genug sagen dass Unklarheit die Dinge leicht macht.“

Zu der Zeit war Gertrude Stein mit dem französischen Schriftsteller und Maler Francis Picabia befreundet. Picabia kam vom Impressionismus über den Kubismus über den Neo-Impressionismus erst zum Dadaismus dann zum Surrealismus und schließlich wieder zum Impressionismus, gegen Ende seines Lebens malte er abstrakt. Der vielleicht berühmteste von ihm überlieferte Satz lautet: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“

Angela Merkel steigt aus der Atomkraft aus, schafft die Wehrpflicht ab und verweigert sich einem Nato-Krieg. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) lobt den „Chaos Computer Club“. Die CDU zeigt Sympathie für die Anti-Banken-Bewegung („Occupy Wall Street“), die auch in Deutschland am Wochenende massiv demonstrierte.

Wenn sich die Fronten überlappen, laufen große Gefühle leer. Die Schilder der modernen Kapitalismuskritiker zeugen von Ratlosigkeit. Auf einem steht: „Free tampons to stop economic bleeding“. Das System abschaffen? Sozialismus einführen? Mehr staatliche Kontrolle über den Finanzsektor, um den Kapitalismus krisenfester zu machen? Die Geister eint, dass sie die Faust ballen. Die Chefs von Banken, die mit Steuergeldern gestützt werden müssen, streichen satte Boni ein. Am unteren Ende der Skala verlieren Menschen ihr Haus, ihren Job, ihr Vermögen. Die Geister entzweit, was aus dieser Ungerechtigkeit folgt.

In den USA artikulierte sich der Zorn auf die Finanzkrise zunächst auf der politischen Rechten. Die „Tea Party“ gründete sich im Widerstand gegen Konjunkturprogramme, Bankenrettungen, überbordende Staatsverschuldung. Ihre Anhänger mobilisierten sich über Facebook und Internet. Weniger Staat, mehr Verantwortung – das ist ihr Credo. Und: Die Verantwortung stirbt, wenn für die Konsequenzen von Handlungen unbeteiligte Dritte zur Kasse gebeten werden. Die „Tea Party“ bejaht den Kapitalismus unter einer Bedingung: dass keinem Unternehmen der Schutzstempel „too big to fail“ (systemrelevant) aufgedrückt wird.

Was für Konservative der Begriff „Verantwortung“ ist für Progressive die „Gerechtigkeit“. Sie stört die ungehemmte Gier und Raffsucht der Kapitalisten, die die Kluft zwischen Reichen und Armen immer größer werden lässt. Mehr Staat, weniger private Verantwortlichkeit – das ist ihr Credo. Die Wut indes „auf die da oben“ als treibende Kraft des Engagements ist dieselbe. Die neuen gesellschaftlichen Trennlinien haben überhaupt eher mit oben und unten, Macht und Ohnmacht zu tun als mit links und rechts. Die Tiraden eines Tea-Party-Anhängers über die Spekulanten und den erpressbaren Staat werden oft wortgleich von den Zeltbewohnern vor der Wall Street wiederholt.

Vor diesem Hintergrund werden Wahlen zu Unmutsbekundungen. Im Regelfall werden die Regierenden abgewählt (USA, Großbritannien, Irland, Dänemark, Island, Slowenien, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Baden-Württemberg, Hessen) oder in neue Koalitionen gezwungen (Deutschland, Berlin, Rheinland-Pfalz). Ein starkes, aber diffuses Kontra-Gefühl wendet sich gegen die jeweils Herrschenden. Die Voten sind hochgradig volatil. Dabei ist es am Ende meist gar nicht so wichtig, wer die neuen Machthaber sind, weil deren Spielräume in der Krise, die keine Grenzen kennt, ohnehin auf ein Mindestmaß reduziert wurden.

Als Rot-Grün 1998 im Bund an die Macht kam, war das mit einem Stimmungswechsel und dem Gefühl eines kulturellen Aufbruchs verbunden. Als Klaus Wowereit jetzt beschloss, statt mit den Grünen mit der CDU zu koalieren, ließ das – mit Ausnahme einiger Aktivisten – alle kalt.

Wenn es brennt, soll die Feuerwehr kommen. Ob ihre Wagen rot, schwarz, grün oder gelb gestrichen sind, interessiert nicht. Sie soll wach sein und besonnen, aber entschlossen handeln. Wer diesen Eindruck erweckt, hat die größten Chancen. Politik als ideologisches Projekt – das war einmal. Insofern überrascht es nicht, dass die Linke kein bisschen von der Krise profitiert. Die Mahner und Warner vor den finanzpolitischen Feuerteufeln mögen sich bestätigt fühlen, aber wissen sie auch, wie man den Brand unter Kontrolle bringt? Kann Kassandra löschen?

Gertrude Steins zweiter Vortrag beginnt mit den Sätzen: „Ich habe gesagt und jeder kann es sagen jeder könnte es sagen dass Wissen ist was man weiß. Wissen ist was man weiß und es ist nichts schwieriger zu sagen als das dass Wissen ist was man weiß.“ Wohl wahr. Vielleicht lauert im Verlust von Wissen und Gewissheit die größte Bedrohung unseres kollektiven Seelenheils. Und wer in einem Protest-Zelt in der Nähe der Wall Street übernachtet, flieht vielleicht auch vor den Zumutungen der systemimmanenten Rätselhaftigkeit. Was sich weder verstehen noch verändern lässt, kann man wohl nur noch aushalten.

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