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Meinung: ÖTV: Selbstmord aus Angst vorm Tod

Die ÖTV ist in die schwerste Krise ihrer Geschichte gestolpert. Da ist es nur folgerichtig, dass der Vorsitzende der Gewerkschaft die Verantwortung übernimmt und geht.

Die ÖTV ist in die schwerste Krise ihrer Geschichte gestolpert. Da ist es nur folgerichtig, dass der Vorsitzende der Gewerkschaft die Verantwortung übernimmt und geht. Herbert Mai ist zu einer tragischen Figur geworden; er wollte den Aufbruch und die Modernisierung der ÖTV verkörpern und sie in der neuen Großgewerkschaft Verdi zu neuen Mitgliedergruppen in der so genannten New Economy hinführen. Das ist erledigt. Nach dem Abstimmungsdesaster von Leipzig ist die ÖTV aus Verdi raus - mindestens vorläufig.

Mai ist gescheitert, weil er seine eigene Truppe nicht richtig gekannt hat. Offenbar hat ihn die Abstimmung über Verdi - ein Drittel der ÖTV-Delegierten stimmte dagegen - wie ein Keulenschlag getroffen. Hätte der Vorsitzende, der Verdi von oben durchdrücken wollte, das Ohr an der Gewerkschaftsbasis gehabt, dann wäre die Erschütterung weniger groß gewesen. Und die ÖTV-Spitze hätte sich auf ein Krisenmanagement vorbereiten können. Was sich indes in Leipzig abspielte, ist mit dem Begriff der Verunsicherung eher beschönigend beschrieben. Vielmehr steht die ÖTV gleichsam über Nacht ohne Kopf und Konzept da.

Mai hat Verdi versiebt und die eigene Karriere beendet. Seit mehr als drei Jahren wird über Verdi verhandelt, die fünf beteiligten Gewerkschaften haben inzwischen hochkomplizierte Satzungen, Richtlinien, Statuten und Berichte verfasst. Ein gewöhnliches Gewerkschaftsmitglied, ein normaler Delegierter blickt durch die Regularien des Fusionsprozesses kaum durch. Umso wichtiger ist Aufklärung und Vermittlung der entscheidenden Inhalte an die Basis. Das hat die ÖTV-Spitze nicht vermocht. Entsprechend wuchsen Misstrauen und wohl auch Trotz gegen den Koloss Verdi, der zudem so manchem Funktionär den Job gekostet hätte.

Mai hat das ambitionierteste Reformprojekt in der Geschichte der Gewerkschaften schwer beschädigt, weil für einen solchen großen Wurf die Tugenden eines Moderators nicht reichen. Kraftlos und kleinmütig statt überzeugt und überzeugend - so hat Mai vor den 550 Gewerkschaftsdelegierten für Verdi geworben. Wie hätte wohl Bulldozer Heinz Kluncker, der für die ÖTV 1974 einen zweistelligen Tarifabschluss rausholte, die eigene Truppe bearbeitet, ihre Zweifel zerstreut und sie alles in allem mit auf den Weg genommen?

Auch Herbert Mai gehört nun zur Gewerkschaftsgeschichte. Und was wird aus der ÖTV? Auf halbem Wege zu Verdi stecken geblieben. Aber wie kommt der Karren aus dem Dreck und in welche Richtung fährt er dann? Geht es überhaupt noch zurück? Die Bewältigung dieser Krise ist vermutlich noch langwieriger und aufwendiger, als es das Zusammenwachsen von Verdi gewesen wäre. Mit dem schwarzen Dienstag von Leipzig hat für die ÖTV der Kampf ums Überleben begonnen.

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