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Pamuk-Prozess: Von Europa keine Spur

Die Entscheidung des türkischen Berufungsgerichts gegen Orhan Pamuk belegt, dass der inzwischen fast vier Jahre währende EU-Beitrittsprozess der Türkei an der Justiz des Landes weitgehend spurlos vorbeigegangen ist.

Pamuk soll mit einer Äußerung über die Ermordung von Armeniern vor fast hundert Jahre die Persönlichkeitsrechte heute lebender Türken verletzt haben. Wenn selbst die obersten Richter ein so offensichtlich demokratiefeindliches Urteil gegen die Meinungsfreiheit fällen, ist es schlecht bestellt um ein Land.

Aus dem Urteil spricht auch die Verzweiflung türkischer Nationalisten über die seit einigen Jahren laufende Debatte zur Armenierfrage im eigenen Land. In der Endphase des Osmanischen Reiches, im Jahr 1915, haben Türken und Kurden mehrere hunderttausende wehrlose Armenier getötet. Ob man das nun Völkermord nennt oder nicht: Der Tod dieser Menschen ist ein bitteres historisches Erbe, mit denen sich die Türken auseinandersetzen müssen. Das ist nicht einfach. Einfacher erscheint es da, die Debatte über die blutige Geschichte per Gesetz oder per Gerichtsbeschluss zu verbieten.

Angesichts solch einer Mentalität in der Justiz ist es fast ein Wunder, dass die Türkei überhaupt so weit gekommen ist in den vergangenen Jahren. Die Pamuk-Entscheidung verdeutlicht aber auch, wie sehr die Justiz von gesellschaftlichen und politischen Trends im Land abgekoppelt ist. Aussagen über die Armenierfrage mögen vor vier oder fünf Jahren noch der große Aufreger gewesen sein – heute sind die meisten Türken gelassener, weil sie gemerkt haben, dass die Welt nicht untergeht, wenn man über diese Frage diskutiert.

Am Wochenende wollen Ankara und Eriwan eine jetzt schon als historisch eingestufte Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen unterzeichnen. Auch die Öffnung der gemeinsamen Grenze und die Einrichtung einer gemeinsamen Wissenschaftlerkommission zur Untersuchung der Armenier-Massaker sind vorgesehen. Wenn Premier Erdogan nicht aufpasst, wird er demnächst wegen Beleidigung der Türken angeklagt.

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