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Porträt: Javie Sicilia: "Man kann uns straffrei töten"

Unter dem Titel "Wir haben die Nase voll" wendet sich der mexikanische Dichter Sicilia an die Politiker und die Drogenkartelle.

Vielleicht kann nur jemand, der einen solch existenziellen Schmerz empfindet, einen derart wuchtigen Brief schreiben. Wenige Tage nachdem sein Sohn Juan Francisco vermutlich von Drogengangstern mit Klebeband vor dem Mund erstickt worden war, wandte sich Javier Sicilia an Mexikos politische und kriminelle Klasse Mexikos. Mit einem offenen Brief in der Zeitschrift „Proceso“ traf der Dichter aus der Provinzstadt Cuernavaca den Nerv eines implodierenden Landes.

Seit fünf Jahren wird Mexiko von einem Krieg zwischen Staat und organisiertem Verbrechen zerrieben. Fronten gibt es keine mehr, es kann jeden treffen. So wie Sicilias 24-jährigen Sohn und sechs seiner Freunde, die wohl nur sterben mussten, weil die Mafia gerne ihre Macht demonstriert, indem sie Unbeteiligte tötet. Seit der konservative Präsiden Felipe Calderón im Jahr 2006 seinen „Krieg gegen die Drogen“ begann, sind knapp 40 000 Menschen umgebracht worden – somit findet in Mexiko der blutigste Konflikt der Welt statt.

Unter dem Titel „Wir haben die Nase voll“ wendet sich Dichter Sicilia nun zunächst an die Politiker: Wegen deren Korruption, Machtgier und Ignoranz seien die Mexikaner nur noch Lebewesen, „die vergewaltigt, entführt, misshandelt und straffrei getötet werden können“. Die Vorstellungskraft der Politiker reiche nur für Waffen, schimpft Sicilia, „daher verachten sie Bildung, Kultur und Arbeit“.

Dann wendet sich der 55-Jährige an die Drogenkartelle und wirft ihnen den Verlust ihres Ehrenkodexes vor: „Sie sind zu Feiglingen geworden, wie die elenden Nazi-Sonderkommandos.“ Am Ende seines Schreibens ruft Sicilia dann zu Märschen gegen den Drogenkrieg auf. Prompt kamen in ganz Mexiko Zehntausende zusammen.

Nun ist der stille, rauchende Poet mit dem grauen Bart zur Symbolfigur des Protests gegen die Eskalationspolitik von Mexikos Präsident Felípe Calderón geworden. Manche Beobachter sehen schon den Beginn einer nationalen Bewegung, ausgerechnet mit einem Poeten an der Spitze, dessen einzige Waffe das Wort ist. Vor wenigen Tagen hat Sicilia 95 Plaketten an den Sitz des Gouverneurs seines Heimatstaates Morelos geschraubt. Darauf stehen die Namen der allein dort in diesem Jahr Ermordeten. Sicilia rief alle Mexikaner auf, es ihm gleichzutun. Die Politiker stünden vor einem – von Sicilia wohl kalkulierten – Dilemma: Entweder ihre Amtssitze würden zu riesigen Mahnmalen, oder sie nähmen die Plaketten ab und bewiesen ihre Hartherzigkeit.

Und doch, trotz aller Sympathie, die Aktionen des Dichters wirken angesichts der Machtverhältnisse hilflos. Zurzeit werden im Bundesstaat Tamaulipas Massengräber mit mehr als 100 Leichen freigelegt. Viele der Toten waren Insassen von Reisebussen. Sie wurden mitten auf der Strecke zum Aussteigen gezwungen, ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet. Ihr angeblicher Ehrenkodex schert die Mafia schon lange nicht mehr. Ebenso waren korrupte Polizisten in die Verbrechen verstrickt.

Gleichzeitig wird bekannt, dass US-Banken jahrelang wissentlich Milliarden von Drogengeldern gewaschen haben. Aus den USA stammt auch der schier unerschöpfliche Nachschub an hochmodernen, potenten Waffen. Javier Sicilia mag die Herzen und Hirne der Mexikaner berühren. Aber die mächtige Maschine, zu der dieser Krieg geworden ist, kann man nicht mit Appellen stoppen. Und seien sie noch so flammend.

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