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Der Anwalt von Jörg Kachelmann gibt in einer Prozesspause ein Interview.

© dapd

Prozesse und Medien: Recht unter Druck

Von Kachelmann bis Brunner: Welchen Einfluss hat die Presse auf die Rechtsprechung? Die Justiz muss ihren Platz in der neuen Medienwelt erst noch finden, doch steht sie damit nicht allein.

Der Prozess um Jörg Kachelmann ging letzte Woche nach dem 15. Verhandlungstag in seine Pause, wie er begonnen hatte: mit einem Streit um die Rolle der Medien. Der Staatsanwalt sagte, ein Kachelmann-Berater habe mit der Presse gedroht, wenn er die Anklage gegen den Moderator nicht fallen lasse.

Mit der Presse gedroht. Wie und mit was kann Presse drohen? Sie muss etwas Bedrohliches haben, die Presse. Sie droht Angeklagten, Richtern, Staatsanwälten; sie droht, meinen viele, insgesamt der Wahrheitsfindung vor Gericht. Sie verfälscht, verzerrt, verdächtigt, verurteilt; sie spricht, wenn sie zu schweigen hätte, verbirgt, was sie enthüllen könnte. All dies tut die Presse im merk- und denkwürdigen Fall des Jörg Kachelmann, jenem öffentlichsten aller nichtöffentlichen Strafprozesse, der alle Probleme bündelt, welche die Justiz, das Recht überhaupt, mit der modernen Öffentlichkeit hat.

Welche gewaltige Rolle Medien in Strafprozessen spielen, wie sie selbst immer stärker zum Thema werden, dafür steht nicht nur Kachelmann, es zeigt sich an nahezu jedem Verfahren, über das in jüngerer Zeit berichtet wurde. Eine beispiellos Verletzung von Persönlichkeitsrechten beklagten Kritiker, als die Sängerin Nadja Benaissa vor aller Augen abgeführt und ihre HIV-Infektion publik gemacht wurde. Vorverurteilung, hieß es, als Ermittler den Abgeordneten Jörg Tauss im Deutschen Bundestag mit Kinderpornovorwürfen konfrontierten und die Meldung von Funden in seiner Wohnung noch durch die Nachrichtenkanäle strömte, ehe die Polizei das Haus verlassen hatte. Als Skandal empfand man, wie Polizisten den früheren Post-Chef Klaus Zumwinkel frühmorgens vor laufenden Kameras wegen Verdachts auf Steuervergehen aus seiner Villa holten.

Medien wirken auch anders in Strafverfahren hinein, so, dass Staatsanwälte nicht sagen, was sie sagen müssten, etwa im Mordprozess um den „S-Bahn-Helden“ von München-Solln, Dominik Brunner. Der Mann erlitt einen Herzanfall, er wurde nicht totgeprügelt, er schlug auch zuerst zu. Man schwieg, um die gewünschte posthume Denkmalwerdung nicht zu gefährden – damit Medien bloß nicht den Eindruck kriegen, hier könnte sich auch das Opfer falsch verhalten haben. Medien wirken auf Zeugen, wie man in der Anklage gegen die Ex-RAF-Terroristin Verena Becker studieren kann, die am Buback-Mord beteiligt gewesen sein soll. Dass viele auf dem Tatmotorrad eine Frau gesehen haben wollen, führen die Bundesanwälte auf falsche Berichte zurück, die Medien seien es, wenn Zeugen Erlebtes und Berichtetes nicht mehr auseinander halten könnten.

Medien wirken direkt auf Richter, hat der Mainzer Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger herausgefunden. Richter lesen die Berichte über ihre Verhandlungen, jeder dritte konzediert Einflüsse, etwa bei der Strafhöhe. Schließlich: Jeder Strafverteidiger atmet auf, wenn ein Journalist hinten im Saal auf der Pressebank sitzt. Man benimmt sich anders, redet anders, respektiert einander anders. Medien machen Recht – selbst wenn sie nicht berichten.

Und doch ragen Kachelmann und seine Richter, Staatsanwälte und Verteidiger, Gutachter, Betreuer und Medienpartner noch einmal heraus. Beachtete Prozesse gab es immer, umstrittene auch, man erinnere sich an den Fall Bachmeier, jene Frau, die am mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter Selbstjustiz übte, oder den Fall Weimar, eine Mutter, die ihre Töchter erdrosselte. Es gab Leitartikel und Exklusivgeschichten, es gab ein erregtes Publikum, es gab das 80er-Jahre-Leitmedium „Stern“, das sich verstricken ließ.

Bei Kachelmann war und ist es noch anders, extremer, schneller, parteiischer. Offiziell gab es zunächst nur den Haftbefehl gegen einen „51-jährigen Journalisten und Moderator“, verlautbarte Mannheims Staatsanwaltschaft. Dass der Wettermann dahinter steckt, war Sache von Minuten. Bald folgen Beweisfetzen zur freien Interpretation der neugierig gewordenen Zuschauerschaft. Kachelmanns Anwälte wehren sich erst mit Presseklagen, dann füttern sie selbst die Journalisten mit Informationen; die wiederum schleudern weitere Fetzen heraus, derart vorsortiert, dass sie die größte Aufmerksamkeit erregen und als Nachricht reüssieren.

Eine „Zeit“-Journalistin legt Kachelmanns Verteidiger, nachdem der an sie herangetreten war, einen Vertrauensanwalt nahe. Sie deutet an, sich zu „engagieren“, wenn dieser Anwalt mit eingebunden würde und sie „den Eindruck habe, dass die Verteidigung richtig liegt“. Kachelmanns Anwalt will nicht. Statt dessen kommt der „Spiegel“ zum Zug, lässt das angebliche Opfer mit überbordender Detailfülle in zweifelhaftem Licht erscheinen, während die „Zeit“ aufgrund von Gutachteraussagen einen Justizirrtum konstatiert.

Auf der anderen Seite stichelt der „Focus“ mit vorgeblichen Schuldindizien. Die „Bunte“ bindet eine Kachelmann-Gefährtin per Exklusivvertrag fast so eng an sich wie dieser selbst es mit seinen Liebesschwüren tat; lässt sie sodann über Sexualpräferenzen der „Fliese“ plaudern, wie man Kachelmann im Kollegenkreis abschätzig nennt. Schließlich steigt die alleingültige Großfeministin Alice Schwarzer für „Bild“ in den überfüllten Ring, um sich mit ihrer Intimfeindin vom „Spiegel“ anzulegen; auf dass die vermeintlich verlorene Ehre des bis zum Beweis des Gegenteils nur vermeintlichen Opfers gerettet würde.

Ein Medienkreisel, der im Internet noch schneller rotiert und lauter brummt, mit Verschwörungen, Beleidigungen, Gehässigkeit, Bloßstellung. Hier kann man jetzt den echten Namen der Zeugin lesen, erfahren, wo der Richter wohnt, mit wem er befreundet ist, es in Blogs so richtig donnern und grollen lassen. Das Gericht reagiert geradezu phobisch, lässt Journalisten auf Socken laufen, in den Schuhen könnten ja Mikros und Kameras versteckt sein. Es sperrt Zuschauer und Presse aus, wenn es nur irgend geht. Es lässt, jetzt fast wahnhaft, einen Reporter festnehmen, weil der draußen vor dem Gericht einen Radiobeitrag aufnimmt; die Kammer fühlt sich abgehört, trotz geschlossener Fenster.

Ein Strafprozess im Jahr 2010, 800 Jahre nach Erfindung des Prangers. Muss man das geschehen lassen? Die Antwort: Vieles, nicht alles. Die Justiz muss ihren Platz in der neuen Medienwelt erst noch finden, doch steht sie damit nicht allein. Sie ist nicht die einzige Institution in Deutschland, die den Dingen auf den Grund gehen soll. Auch die Medien selbst sind betroffen. Sie sind, mit ihrer entgrenzten Multiplikation im Internet, einer emanzipatorischen Bürgerpublizität und dem Wandel ihrer Ökonomie selbst förmlich in ein neues Medium hineingeraten. Sie schwimmen und schwanken, müssen Halt suchen und sich orientieren wie andere auch.

Nur wie? Die Lebensweisheit, sich mit Dingen abzufinden, die man nicht ändern kann, gilt auch für Dinge, die man besser nicht ändern sollte. Dazu gehört die (Medien-)Öffentlichkeit von Strafprozessen. Sie ist Baustein im Legitimationsfundament demokratischer Herrschaft. Sie befähigt und kontrolliert die Macht bei ihrem tiefen Eingriff in die Freiheitsrechte. Ein demokratischer Staat, der Öffentlichkeit stark einschränkt oder lenkt, beschneidet sich selbst.

Das gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen hält, wofür Strafprozesse da sind, was sie leisten können, was sie überfordern würde. Wahrheitsfindung ist ein so hehres wie vergebliches Ideal, es ist der rhetorische Rahmen, der dem prozessualen Puzzle eine Form geben soll. Es gibt hier nur eine relevante Wirklichkeit, und auch dies ist nicht die Wirklichkeit des Geschehenen, sondern die des Verfahrens selbst; eines komplexen Vorgangs, bei dem Aussagen, Vorbringen, Anträge und Dokumente mittels der fast 500 Prozessordnungsparagrafen erst auseinandergenommen und dann neu zusammengefügt werden. Nicht von Maschinen, sondern von Menschen, mit ihren Vorzügen, Schwächen, individuellen Wertungen und Sichtweisen. Wahrheit bleibt dabei so unerreichbar wie Gerechtigkeit. Am Ende entsteht eine im günstigen Fall sorgsam gefertigte Abschrift des mutmaßlich Geschehenen, die Verantwortung zuschreibt und Folgen festlegt: das Urteil. Erscheint es rational und plausibel, nennen wir es wahr und gerecht.

Dort, wo Wirklichkeit konstruiert wird, ist die Bedeutung der Medien evident, zumal in einer Gesellschaft, die heute selbst Freundschaftspflege und Partnerwahl an Medien delegiert. Statt dies als Chance zu begreifen, die neue Öffentlichkeit mitzuentwickeln, fürchtet sich die Justiz und mauert. Das Bundesverfassungsgericht hat hier die Weichen vor exakt zehn Jahren falsch gestellt. Der pauschale Ausschluss von TV-Kameras aus Gerichtssälen wird dem Öffentlichkeitsgrundsatz nicht gerecht. Mit Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte könnte es mindestens in Verwaltungs- und den Bundesgerichten TV-Öffentlichkeit geben. Und wenn, wie bei Jörg Tauss, die Staatsanwältin aus der Anklageverlesung ohne Not eine stundenlange Show zu machen meint, um die Angelegenheit zu dramatisieren, könnte sie es genauso gut auch vor Kameras und Mikro tun.

Man mag einwerfen, das mache alles nur schlimmer. Was stimmt, wenn man sich entsprechend schlimm benimmt. Aktuell wird dies den Staatsanwälten vorgehalten, weil sie die Presse mitunter auch über einen bloßen Verdacht informieren, vor Erhebung einer Anklage. Man übersieht dabei, Staatsanwaltschaften sind auskunftspflichtige Behörden, und ein begründeter Verdacht ist kein Gerücht. Information ist die Regel, Nichtinformation die Ausnahme.

Dass Staatsanwälte besonders rücksichtslos geworden seien, kann man ihnen kaum unterstellen. Zumwinkel, Tauss, Benaissa – am Ende wurden alle verurteilt. Dennoch, die Beamten müssen jeden Fall abwägen, und wenn ihnen ein Beschuldigter öffentlich widerspricht, wie damals Tauss, dann müssen sie nicht dagegenhalten. Sie sind die Herren des Verfahrens, ohnedies die Stärkeren.

Anwälte und Zeugen sind freier. Sie können sich an die Presse wenden, sie inszenieren. „Litigation PR“, prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit, ist kein neues Phänomen. Allerdings: Vor Gericht gilt die Wahrheitspflicht, vor der Presse nicht. Ein Zeuge kann seine Aussage entwerten, wenn er sich erst mit Journalisten einlässt und dann vor die Richter tritt. Ähnlich der Anwalt, der seinem Mandanten mehr schaden als nutzen kann, wenn er Ermittlungsakten im Vorfeld für Journalisten öffnet.

Auch die Berichterstatter sind frei, freier als alle. Sollte dies dem einen oder anderen zu viel Freiheit sein, hilft ein Blick in den Pressekodex. Berichterstatter sollen nicht vorverurteilen – oder vorfreisprechen – und sie sollen zunächst über das Verfahren und die richterliche Bewertung berichten, bevor sie selbst Beweise würdigen. Droht ein dramatisches Fehlurteil, verfügen Journalisten über Indizien oder Informationen, die sonst keiner hat, sollten sie sich natürlich in den Prozess einschalten. Aber das ist selten so.

All dies kulminiert im außerordentlichen Fall Kachelmann. Er zeigt musterhaft, ob und wie das Recht die Frage nach Schuld beantworten kann. Der normativen Elaboriertheit und Gewissheit von Gesetz und Judizen steht die geballte Ungewissheit des gelebten „echten“ Lebens gegenüber. Der Konflikt mündet in der klassischen Konstellation „Aussage gegen Aussage“, die keineswegs bedeutet, dass einer freigesprochen werden muss.

Psychologische Gutachten haben einen hohen Standard erreicht. Doch Wahrheit gibt es darin nicht und auch nicht die Wirklichkeit, auf die es ankommt, die prozessuale. Ihre allgemeine Hochschätzung, beispielsweise in der Debatte um Sicherungsverwahrung, vermittelt einen trügerischen Eindruck. Psychologen können nicht erkennen, was ein Mensch künftig tut oder ob er lügt. Sie können dem Gericht nur anbieten, eine von bestimmten wissenschaftlichen Standards geprägte Perspektive einzunehmen. Vergleichbares gilt für die Rechtsmedizin. Sachverständige sind nicht einmal Berater, sie sind Helfer des Gerichts. Wollen sie ihrer Perspektive zum Durchbruch verhelfen, verfehlen sie ihren Job.

Im Dezember geht es mit Kachelmann weiter. Das Urteil und seine Rezeption werden zeigen, wo Justiz und Medien stehen. Jeder bekommt noch genug Gelegenheit, sich einen Platz zu suchen.

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