zum Hauptinhalt
Müssen Mädchen und Jungen unbedingt gemeinsam Schwimmen lernen?

© dpa

Religionsfreiheit versus Schulpflicht: Was unsere Nachbarn lehren

In Deutschland gilt eine strenge Schulpräsenzpflicht – dabei gibt es gute Gründe für Ausnahmen. In vielen anderen Ländern herrscht mehr Freiheit und weniger Zwang zur Homogenität.

Religionsfreiheit oder Schulpflicht? Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat in dieser Woche zwei klare Urteile gefällt. Die Richter wiesen sowohl die Klage von Zeugen Jehovas ab, die ihren Sohn von einer Filmvorstellung befreien lassen wollten, als auch die Klage einer 13-jährigen Muslima, die nicht am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen wollte. Beide Urteile wurden allgemein begrüßt. Durch den Schulbesuchszwang, so hieß es, werde die Sozialkompetenz der Kinder gestärkt. Der Schulbesuch diene nicht allein der Wissensvermittlung, sondern fördere auch die gesellschaftliche Integration.

Eine Biografie wie die von David Karp wäre in Deutschland unmöglich. In der Schule war er schlecht, nach dem Unterricht hing er bis in die Nacht zu Hause vor seinem Computer. Als er 14 wurde, zog seine Mutter einen Schlussstrich. Sie nahm David von der Schule und unterrichtete ihn zu Hause. „Seine Leidenschaft waren Computer, ich musste ihm einen Raum dafür schaffen.“ Statt Mathe und Englisch zu lernen, entwickelte sich der Junge zu einem Programmiergenie. Mit 20 gründete er die Blogging-Plattform Tumblr. Sechs Jahre später, im Mai dieses Jahres, verkaufte er sie an Yahoo für 1,1 Milliarden Dollar. Keine schlechte Karriere für jemanden, der keinen Schulabschluss hat.

In Deutschland ist das Homeschooling, der Hausunterricht, verpönt. Historisch gesehen hat das gute Gründe. Nur Bürgertum und Adel waren finanziell in der Lage, ihre Kinder durch Hauslehrer unterrichten zu lassen. Alle anderen hatten das Nachsehen. Durch die Einführung der Schulpflicht änderte sich das. Nun konnte auch der Nachwuchs aus der Unter- und Mittelschicht dem Analphabetentum entkommen. Doch Schulpflicht muss nicht identisch sein mit Hausunterrichtsverbot. Das wurde in Deutschland erst 1938 von den Nazis eingeführt, die den totalen staatlichen Zugriff auf alle Kinder haben wollten.

In vier Nachbarländern Deutschlands – Dänemark, Belgien, Schweiz, Österreich – gibt es zwar eine Bildungs-, aber keine Schulpflicht. Auch in Irland, Italien, Spanien, Australien, Großbritannien und den USA haben Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Religiöse Motive sind dafür durchaus nicht immer ausschlaggebend. In dünn besiedelten Gebieten können weite Fahrwege und hohe Kosten vermieden werden, auch weil die auf jedes Alter zugeschnittenen interaktiven Online-Unterrichtskurse immer besser werden. Die Kinder werden zwar regelmäßig von staatlichen Schulen geprüft, müssen ihre Kenntnisse aber nicht in ihnen erworben haben.

Der costa-ricanische Anwalt, Pädagoge und Philosoph Vernor Munoz war von 2004 bis 2010 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung. 2006 bereiste er Deutschland. In seinem anschließenden Bericht kritisierte er unter anderem, dass die restriktive deutsche Schulpflicht die Inanspruchnahme des Rechtes auf Bildung mittels alternativer Lernformen wie Hausunterricht kriminalisiert. Geändert hat sich seitdem nichts. Gesellschaftliche Homogenität bleibt das Ideal. Ausnahmen dulden und Besonderheiten akzeptieren fällt nach wie vor schwer.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false