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Wir machen weiter: Was Wikileaks nach der Verhaftung Julian Assanges getwittert hat. Die Veröffentlichung weiterer geheimer diplomatischer Depeschen ("cables") wird angekündigt.

© Tsp

Kontrapunkt: Schafft zwei, drei, viele Wikileaks!

Mit aller Macht versucht eine internationale Koalition der Willigen die Internetplattform Wikileaks zum Schweigen zu bringen. Carsten Kloth hält dieses Vorgehen für unkreativ, substanzlos und aggressiv. Ein Kontrapunkt.

Der Gründer der Internetplattform Wikileaks, Julian Assange, ist am Dienstag von der britischen Polizei verhaftet worden. So lautet die Schlagzeile des Tages, die viele Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks freuen dürfte. Fordern doch nicht wenige, den Wikileaks-Kopf hinter Gitter zu bringen oder gar "verschwinden zu lassen". Doch die Schlagzeile täuscht. Genau genommen müsste sie lauten: Julian Assange hat sich in London der Polizei wegen der Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden gestellt. Der 39-Jährige ist nach seinem verabredeten Erscheinen auf einer Polizeiwache festgenommen worden. Und hierbei geht es eben nicht um die angeblich illegalen Aktivitäten von Wikileaks. Selbst in den USA ist nicht eindeutig geklärt, ob gegen Assange und Wikileaks juristisch vorgegangen werden kann.

Die Antworten der Politik auf die Veröffentlichungen durch Wikileaks sind unkreativ, substanzlos und aggressiv. Sie unterliegen einem Denkfehler: Nicht Wikileaks verrät Geheimnisse oder stiehlt Dokumente. Die Plattform bekommt, da sie eine weitestgehend sichere Verbindung bietet, die Dokumente von Informanten zugespielt. Die Informanten sind es, die unter Umständen den Geheimnisverrat begehen und juristisch belangt werden könnten. Es erscheint daher verständlich, dass sie sich einen möglichst sicheren Weg suchen.

Informanten können sich auch direkt an Journalisten wenden. Leider gibt es dabei eine natürliche Hemmschwelle. Zunächst gilt es, einen vertrauenswürdigen Journalisten ausfindig zu machen und mit diesem in Kontakt zu treten. Doch hundertprozentige Sicherheit gibt es dabei nicht. Wird der Journalist den Informantenschutz verteidigen? Wird der Journalist vielleicht selbst bespitzelt, wie es beispielsweise die Deutsche Telekom getan hat? Informanten haben mitunter gute Gründe, lieber einen anonymen Kanal wie Wikileaks zu nutzen.

Doch die Front gegen Wikileaks steht – international und parteiübergreifend. Julian Assange wird als "Verräter" und "Terrorist" beschimpft, sein Kopf wird gefordert: US-Senator Mitch McConnell aus Kentucky, Fraktionschef der Republikaner im US-Senat, nannte den Wikileaks-Sprecher am Wochenende im US-Fernsehen einen "High-Tech-Terroristen", der möglichst schnell hinter Schloss und Riegel gebracht werden müsse. Die frühere republikanische Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin und ihr Parteifreund Peter King wollen Assange als Terroristen verfolgen lassen. Palin bezeichnete Assange als "anti-amerikanischen Agenten, der Blut an den Händen hat". King forderte vom US-Außenministerium gar, Wikileaks zur "ausländischen Terrororganisation" zu erklären. Und dies sind noch die harmloseren Äußerungen. Ein kanadischer Experte hatte die Ermordung Assanges als Strafe für die Veröffentlichung geheimer US-Depeschen gefordert. Der US-Politiker und ehemalige republikanische Kandidat zur Nominierung für die Präsidentschaftswahl 2008, Mike Huckabee, sagte, die Verantwortlichen für die Daten-Lecks sollten hingerichtet werden. Eine juristische Begründung für ihre Forderungen bleiben diese Hardliner schuldig.

Aber auch hierzulande sind die Äußerungen harsch und undifferenziert. Dass die "unkreative Teflonpfanne" Merkel und der "substanzlose Aggro" Westerwelle sauer sind, ist menschlich nachvollziehbar. Seltsamerweise richtet sich auch hier der Ärger nicht auf die Verfasser der durchaus realistischen Beurteilungen, die Diplomaten in den US-Botschaften, sondern auf den Überbringer der Nachricht. Abgesehen von der Piratenpartei kritisieren nahezu alle Parteien Wikileaks. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle von der angeblich freiheitsliebenden FDP hat die von Wikileaks enthüllten Dokumente sogar mit Papieren der Stasi verglichen.

Julian Assange, eine Mischung aus Osama bin Laden und Erich Mielke? Oder doch lieber gleich Adolf Hitler? Fest steht, dass die Weltmacht USA Wikileaks und ihren Gründer Julian Assange mit allen Mitteln zu bekämpfen versucht. Dieser Kampf wird auf technischer, finanzieller und medialer Ebene geführt – und er trägt bisweilen komische, wenn nicht verzweifelte Züge. So freut sich US-Verteidigungsminister Robert Gates nun über die Verhaftung von Assange. Wohlgemerkt: Er freut sich darüber, dass ein Australier wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus Schweden in London festgenommen wurde.

"Die heutige Aktion gegen unseren Chefredakteur Julian Assange wird unsere Arbeit nicht beeinträchtigen", kündigten schon die Wikileaks-Aktivisten über den Online-Dienst Twitter an. Dies ist glaubhaft. Wikileaks widerstand bisher auch sämtlichen technischen Attacken. Die Seite ist nach wie vor beispielsweise über die Internetadresse http://213.251.145.96 oder http://www.wikileaks.ch sowie über 748 weitere Adressen erreichbar. Das Netz lässt sich nicht so ohne weiteres kontrollieren, nicht von den Chinesen, nicht von den USA. Selbst wenn es gelingen sollte, Wikileaks auszutrocknen: Die nächsten Projekte dieser Art stehen schon in den Startlöchern. Nach der Devise: Schafft zwei, drei, viele Wikileaks!

Man kann das Projekt Wikileaks für vieles kritisieren. So gibt es nicht bei allen Veröffentlichungen ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Journalistischen Kriterien genügt die Plattform nicht. Positiv zu bewerten ist deshalb, dass Wikileaks zunehmend mit der etablierten Presse zusammenarbeitet.

Natürlich haben die Veröffentlichungen durch Wikileaks nicht nur positive Effekte, aber sie sind ein Beitrag für mehr Transparenz und Aufklärung. Der ein oder andere Politiker mag in Zukunft vorsichtiger mit seinen Äußerungen und in seinem Verhalten sein – seine Sünden könnten schnell den Weg ins Netz finden.  

Und Julian Assange? Dieser hat sich in einem Blog der Zeitung "The Australien" zu Wort gemeldet und sich verteidigt. Das Verhaltensmuster, den Überbringer einer schlechten Nachricht stellvertretend für deren Ursache zur Verantwortung zu ziehen, war in der Geschichte häufig zu beobachten. Im Mittelalter wurde der Bote mitunter geköpft. Nimmt man die Äußerungen einiger US-Politiker ernst, hat sich seitdem nicht viel geändert.

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