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Meinung: So ein Schlamassel

Hat Amerika vor dem Irakkrieg gelogen? Das interessiert nur Europa

Auf dem Rücksitz nörgeln die Kinder. Erst Hitze, dann Stau. Die Urlaubsreise zieht sich in die Länge. In diesem Moment behelfen sich viele Familien mit einem Spiel: Ich sehe was, was du nicht siehst. Ein Kind konzentriert sich auf einen Gegenstand, den die anderen erraten müssen. Es ist verblüffend, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen selbst innerhalb einer Familie sein können.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Eine Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers beherrschte am Donnerstag die Schlagzeilen in Europa. Donald Rumsfeld, hieß es, habe „eingeräumt", dass die US-Regierung vor dem Irakkrieg keine neuen Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen gehabt hätte. Die Meldung suggeriert ein Eingeständnis. Es schwingt der Vorwurf mit, die Öffentlichkeit sei über das Ausmaß der Bedrohung getäuscht worden. Von Irreführung, Manipulation und Lüge ist die Rede.

In den drei großen amerikanischen Tageszeitungen muss der Leser die Rumsfeld-Bemerkung dagegen mit der Lupe suchen. Weder findet sie sich in der „New York Times“, die mit den Kosten der Besatzung aufmacht, noch im „Wall Street Journal“, das sich mit einem ganz anderen Thema befasst („In Deep Crisis, Germany Starts to Revamp Vast Welfare State"). Lediglich auf einer hinteren Seite der Spätausgabe der „Washington Post“ wird der Satz kurz erwähnt. Offenbar fehlt ihm in den USA die Brisanz.

Seit zehn Wochen ist der Irakkrieg offiziell vorbei. Doch die Wahrnehmungsunterschiede diesseits und jenseits des Atlantiks werden kaum kleiner. In Europa dominiert die Legitimationsdebatte. Sie wird genährt davon, dass bis heute im Irak keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden. Im Nachhinein scheinen sich die dunkelsten Ahnungen über die Unverfrorenheit der US-Regierung zu bestätigen. Sie wollte diesen Krieg. Die Gründe dafür wirken vorgeschoben. Amerikas Sicherheit war nie akut vom Irak bedroht, es gab keine engen Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Osama bin Laden, und als Letztes ging es Washington um das Völkerrecht und die Verletzung der UN-Resolutionen.

In Amerika dominiert die Schlamasseldebatte. Den Krieg selbst halten die meisten Amerikaner nach wie vor für gerechtfertigt. Immerhin wurde ein Tyrann gestürzt und ein Volk befreit. Am wichtigsten aber ist das befriedigende Gefühl, die nationale Schmach vom 11. September wettgemacht zu haben. Gefühle sind selten rational. Dass Saddam Hussein mit den Terroranschlägen nichts zu tun hatte, ist nebensächlich.

Dennoch: Jetzt rächt sich der Hochmut der US-Regierung, zumindest nach dem Krieg nicht wieder stärker auf die verprellten Verbündeten zugegangen zu sein. Fast täglich sterben Amerikaner bei Anschlägen im Irak. Aus der Befreiungsarmee ist eine Besatzungsmacht geworden. Die Soldaten sind frustriert und fühlen sich überfordert. Immer lauter werden die Stimmen, die eine Internationalisierung der Truppen verlangen. Auch Frankreich, Deutschland und die Türkei müssten gefragt werden. Wer in Europa glaubt, diesem Druck unter Verweis auf ein notwendiges UN-Mandat ausweichen zu können, wird womöglich eines Besseren belehrt. Warum sollte die US-Regierung nicht ein neues UN-Mandat anstreben, um die irakische Last auf mehr Schultern zu verteilen?

Ich sehe was, was du nicht siehst: Aus europäischer Sicht, verstärkt durch die Legitimationsdebatte um die Massenvernichtungswaffen, war der Irakkrieg moralisch verwerflich und wurde durch Intrigen eingefädelt. In Amerika dagegen verdichtet sich das Gefühl, das Richtige getan zu haben, aber nun in einem Schlamassel zu stecken, aus dem sich das Land nicht selbst befreien kann. Bald könnte eine formale Unterstützungsanfrage auch in Berlin eingehen. Womöglich war es leichter, zum Krieg Nein zu sagen, als sich der Hilfe bei der Gestaltung des Nachkriegs zu entziehen.

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