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Meinung: So weit das Mitleid reicht

Tsunami und „Katrina“ wühlten uns auf, das Erdbeben in Pakistan tut es nicht – warum?

Wie geht’s uns eigentlich heute, besser oder schlechter als früher? Mit „uns“ sind wir alle gemeint, die Menschheit. Wer täglich Zeitung liest, antwortet wahrscheinlich: schlechter. Wir leben in einer Welt, in der Terroristen Flugzeuge in Wolkenkratzer steuern, Tsunamis wüten und ganze Landstriche zerstören, in der Erdbeben, wie jetzt in Pakistan, mehrere zehntausend Menschen töten, in der Hurrikane immer häufiger und immer stärker werden. In Afrika hungert jedes dritte Kind. In Ländern wie Simbabwe und Malawi sind rund 30 Prozent der Bewohner an Aids erkrankt. Die Zahl derer, die auf der Flucht sind – wegen Dürre, steigender Meeresspiegel und der Ausdehnung der Wüsten – steigt unaufhörlich. Das Rote Kreuz schätzt, dass es bis zum Ende dieses Jahrzehnts 50 Millionen Umweltflüchtlinge gibt.

Aber wie war es früher? Die Lebenserwartung gering, die Säuglingssterblichkeit hoch, Krankheiten wie Pest, Cholera und Tuberkulose rafften regelmäßig Millionen Menschen dahin. Ernährung, Kleidung, Hygiene haben sich deutlich verbessert. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Kolonialkriege sterben erheblich weniger Menschen durch bewaffnete Konflikte. Im Jahre 1946 existierten 20 Demokratien auf der Welt, heute sind es 88. Objektiv gesehen, fällt die Antwort also schwer. Vielleicht geht es uns besser, aber wir fühlen uns schlechter.

Denn nie zuvor wurden wir derart ausführlich über das Elend informiert wie heute. Ob Terroranschlag auf Bali, Hurrikan über Mexiko, Erdbeben in Kaschmir, Tsunami in Südostasien: Mittels der TV-Bilder sind wir unmittelbar dabei, leiden mit. Leiden wir mit? Das ist unklar. Beim Tsunami, kurz nach der Weihnachtszeit, kam vieles zusammen. Erstens war die Art der Katastrophe neu – und deshalb in gewisser Weise faszinierend. Das galt auch noch für Hurrikan „Katrina“. Doch spätestens bei Hurrikan „Wilma“ tritt der Gewöhnungseffekt ein. Wir kennen die Bilder. Zu viele ähnliche Katastrophen in zu rascher Folge führen zur Abstumpfung.

Zweitens war uns die Tsunami-Region, trotz ihrer geografischen Distanz, nahe. Sie war ein Urlaubsgebiet, auch Deutsche befanden sich unter den Opfern. Das hätte auch mir passieren können: Dieser Gedanke drängte sich auf. Bei den Verhungernden in Afrika und den Erdbebenopfern in Pakistan drängt er sich nicht auf. Das ist ein entscheidender Unterschied.

Die Mitleidsfähigkeit des Menschen ist begrenzt. Die Medien in ihrer allgegenwärtigen Katastrophenpräsenz nötigen ihm eine Art globaler Empathie ab, die ihn überfordert. Kein Einzelner kann mit jeder geschundenen Kreatur jederzeit mitleiden. Das von ihm zu verlangen, wäre, wertfrei gesprochen, unmenschlich. „Nine-Eleven“, Tsunami, „Katrina“: Diese Tragödien wühlten uns auf, weil sie neuartig zu sein schienen und uns irgendwie angingen – als Terroropfer, Urlauber, Klimaveränderungsbetroffene. Andere, ungleich verheerendere Katastrophen lassen uns dagegen kalt. Gerecht sind unsere edelsten Gefühle nicht.

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