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Mon BERLIN: Sommergerüche, die schwindelig machen

Ich kenne keine Stadt, die so gut riecht wie Berlin im Sommer. Hat sie heute Vormittag noch alle Tassen im Schrank?

Ich kenne keine Stadt, die so gut riecht wie Berlin im Sommer. Hat sie heute Vormittag noch alle Tassen im Schrank? Leidet sie an Dufthalluzinationen? Ist sie – die Glückliche! – mit einer Verdrängungsnase ausgestattet, die filtert und verschönt… den Geruch von Mülltonnen, Katzenpisse, Hundehaufen, U-Bahn-Schlünden, Industrieparks, Auspuffrohren, Gullys, krepierten Ratten, Matsch, Kohl, Pommesbuden, altem Fett, schlecht gewaschenen und verschwitzten Zeitgenossen? Ja, ich sehe richtig vor mir, wie Sie in diesem Moment am Frühstückstisch zusammenzucken. Berlin duftet so schön... Wat für ein Unsinn!

Und dennoch. Die feuchten Städte lügen nicht. In diesen Tagen bringt der Siebenschläfer mit seinen warmen Monsungüssen so viele zarte Aromen aus der Erde, als hätte Berlin sich kokett parfümiert. Der flüchtige Duft der Rosen in einem Vorgarten. Aus Thymian und Rosmarin auf den Balkonen steigen die Dämpfe der Provence auf. Herb duften die Geranien, lieblich die Nelken. Das frisch geschnittene Gras in den Parks. Das Wasser an den Ufern der Spree. Die Gewürze in Kreuzberg. Die von blühenden Linden gesäumten Alleen riechen so sauber wie mit Seife gewaschen. Die Lindenblüten mit ihren Aromen von Honig und Vanille, so feminin, so süß. Die Lindenblüten mildern nervöse Unruhe und Schlafstörungen ohne Gewöhnungsgefahr, sagen die Pflanzenkundigen.

Und dann der starke und atemberaubende Dunst aus dem Hinterhof, wenn ich abends das Fenster öffne. Farn, Moos, feuchte Erde. Dieser Geruch nach Saft, Pollen und Samen macht einen ganz schwindelig.

Wenn es morgens auf dem Balkon noch frisch ist, riecht es nach den großen brandenburgischen Wiesen. Heu, Margeriten, Kornblumen, Klee. Ein in die USA ausgewanderter alter Jude erzählte mir, wie sehr ihm der dramatische Himmel von Berlin fehlt, wenn der Regen nach einem glutheißen Sommertag aus Russland herangezogen kam und den Geruch der weiten Ebene mit sich brachte. Mein alter Freund fand den kalifornischen Regen öde. Die Gerüche bewahren die Erinnerungen unverfälscht. Er dachte so wehmütig an seine heile Berliner Kindheit vor dem Exil und der Katastrophe, dass er die reine Luft gar nicht wahrnahm, die der mit Jod beladene Wind und der Hochnebel nach San Francisco trägt.

Aber wie recht er doch hat: Berlin riecht nicht nach Eingeschlossenheit wie Paris: In seine Haussmann-Gebäude ist es wie in eine Zwangsjacke eingezwängt, und die Luft kann nicht zirkulieren. Das Land ist so weit weg von Paris. Auch nach mehreren Stunden Stau am Stadtrand von Berlin fühlt man nicht wie in dem so pittoresken und klammen Amsterdam die Luftfeuchtigkeit – so hoch, dass man in seinem Schlafzimmer Pilze züchten könnte. Sprechen wir nicht von Neapel und seinem legendären Gestank, wenn die Müllmänner bei 40 Grad im Schatten streiken. Und auch nicht von Venedig mit seiner trügerischen Schönheit, die den Menschen mit ihren Palazzi und Basiliken Sand in die Augen streuen will, damit sie die aus den Kanälen aufsteigenden üblen Ausdünstungen von faulen Eiern ebenso vergessen wie den bitteren Gestank des Taubendrecks auf der Piazza San Marco.

Venedig, die Serenissima, kritisieren, Amsterdam angreifen und auch noch Paris, meiner Hauptstadt, am Zeug flicken… Zweifellos mache ich mich lächerlich, wenn ich meine Adoptivstadt so verteidige, aber sind Sie schon mal stehen geblieben, um den Geruch des heißen Pflasters an einem Sommerabend einzuatmen? Und den aus offenen Kellerfenstern, denen eine erdige Frische entströmt? Die mit Weihrauch getränkte Luft aus den Kirchentüren. Haben Sie schon mal mit der Nase an dem heißen Straßenbelag gerochen, wenn er nach einem Schauer plötzlich abgekühlt war? Wegen dieser Sinneswahrnehmungen beklage ich mich nie über den Juliregen. Und ich freue mich schon auf den Winter. Der Schneegeruch von so weit her, die Kohle in den letzten großen Kachelöfen… Ja, die Berliner Luft verdient es, mit vollen Zügen eingesogen zu werden.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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