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Meinung: Spielerin auf großem Feld

Die ganze Welt setzt auf Angela Merkel – und sitzt selbst auf der politischen Zuschauertribüne

Europas Seele, sagt Angela Merkel, ist die Toleranz. Es sind Sätze wie dieser, die mehr Unheil anrichten als tausend Gurkenrichtlinien aus Brüssel. Mitten in eine dramatisch voranschreitende Europamüdigkeit stellt sich die amtierende Ratspräsidentin vor das EU-Parlament und redet vom „europäischen Haus“, zitiert Voltaire und erzählt den Abgeordneten noch einmal Lessings „berühmte“ Ringparabel. Wer da nicht abschaltet, ist in der Tat tolerant.

Aber Merkel kann eben immer auch anders. Dann sagt sie mutige Sätze wie „Die Zeit des Nachdenkens ist vorbei“ und dekliniert ein ehrgeiziges Programm durch, das es aus ihrer Sicht abzuarbeiten gilt: Kosovo, Naher Osten, Iran, Afghanistan, Schwarzmeerregion, EU- USA-Gipfel, Russland, Doha, ein neues Klimaabkommen, Afrika – und natürlich die EU-Verfassung. Es ist das richtige Programm für Europa und das bleibt es auch in dem Fall, dass Merkel während der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft es nicht schafft, den Iranern die Atombombe auszureden oder die Armut in Afrika für immer zu beenden.

Es ist kein Zufall, dass Merkels Vorhaben so außenpolitisch sind. Ohne eine Lösung des Verfassungsproblems ist an eine Erweiterung, Vertiefung, Entbürokratisierung, Demokratisierung oder Popularisierung der Union überhaupt nicht zu denken. Mit den heutigen Regeln kommt die EU aus ihrer Krise nicht heraus. Dass Merkel in ihrer Rede weiter vom politisch verbrannten „Verfassungsvertrag“ sprach, statt einen neuen Begriff, wie etwa Grundlagenvertrag, in die Debatte einzuführen, ist ein Fehler. In der jetzigen, von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten Version, hat der Vertrag kaum eine Chance.

Außenpolitisch sind Merkels Entfaltungsmöglichkeiten größer, ihre Ziele auch. Nicht nur die Europäer sehen Merkel als unbelastete Maklerin für so gut wie jedes drängende Problem auf der Welt. Sie ist womöglich die derzeit wichtigste Diplomatin auf dem Globus: der amerikanische Präsident aus dem Spiel, Blair und Chirac nur noch formal im Amt und der neue UN-Generalsekretär nicht eingearbeitet. Die „Asia-Times“ meint sogar, Merkel hätte die Macht, die Regeln für eine neue, globale Nuklearpolitik zu definieren.

Doch Merkels Stärke ist zugleich ihre Schwäche: Ihr Spielfeld ist deshalb so groß, weil sie die Einzige auf dem Spielfeld ist. Die anderen haben sich, wohlwollend gewiss, auf die Zuschauertribüne verzogen. Wenn Merkel also darauf setzt, „Entscheidungen zu erarbeiten“, wie sie es im EU-Parlament ausdrückt, dann wird sie es schwer haben. Es ist nämlich niemand da, mit dem sie irgendetwas erarbeiten könnte. Die notwendigen Entscheidungen muss sie also selbst fällen und durchsetzen.

In solchen historischen Momenten ist meistens das Gegenteil von Toleranz gefragt.

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