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Staatsrechtler: Ein Folterknecht als Richter?

Wie konnte es geschehen, dass ein angesehener Staatsrechtler mit einem Mal als akademischer Folterknecht dasteht? Horst Dreier wird zu Unrecht demontiert, findet Robert Leicht.

Horst Dreier war von der SPD zur Wahl zum Verfassungsrichter vorgeschlagen worden - de facto auch als nächster Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Daraus wird nun wohl nichts mehr werden, teils, weil die Union verständlicherweise an seinen bioethischen Auffassungen Anstoß nimmt – teils aber, und das unverständlicherweise, weil er angeblich die Folterung von Geiselnehmern befürwortet.

Zunächst eine Kurzfassung seiner Aussagen – dann ein Blick auf das kaum zur Kenntnis genommene verfassungsrechtliche Hintergrundproblem:

Horst Dreier hält die Menschenwürde für ein absolutes höchstes Gut, das schlechterdings keinerlei Abwägung mit anderen Rechten zugängig ist. Deswegen rechtfertige nicht einmal das Lebensrecht einer Geisel die Folterung ihres Entführers. Dreier hat das „Flugzeug-Abschuss-Gesetz“ vehement abgelehnt: Man dürfe keinesfalls das Leben der unschuldigen Flugzeug-Insassen gegen das Leben der Menschen abwägen, die beim Absturz der Maschine sterben könnten. Macht alles nichts – er soll für einige dennoch ein Folterknecht sein. Er hat nämlich die Frage gestellt: Was ist, wenn der Staat die nicht abzuwägende absolute Menschenwürde von A und die nicht abzuwägende absolute Menschenwürde von B gleichermaßen schützen muss, aber das eine nur zu Lasten des anderen tun könnte? Für diesen Fall, so Dreier, sei der Gedanke einer rechtfertigenden Pflichtenkollision „nicht von vorneherein“ auszuschließen. Ich würde die Frage anders beantworten – aber ich kann in ihr kein Gedankenverbrechen sehen, zumal bei einer solchen Pflichtenkollision ja nicht ein bestimmtes Handeln befohlen wird, sondern jede der denkbaren Handlungsalternativen als gerechtfertigt erscheint.

Das Hintergrundproblem ist nun folgendes – und es betrifft das Verhältnis der Menschenwürde zu anderen Grundrechten, etwa zum Recht auf Leben, das wir ja durchaus der Abwägung öffnen: Notwehr, finaler Rettungsschuss, Kriegseinsatz… Man kann die Menschenwürde zu einem Grundrecht neben anderen herunterstimmen und dann eben abwägen. Das tut zum Beispiel der Bonner Staatsrechtler Herdeegen, der dann prompt in einer lebensrettenden Folter schon tatbestandlich keine Verletzung der Menschenwürde erkennt. So denkt aber Dreier gerade nicht. Er hält die Menschenwürde kompromisslos – siehe oben – für einen absolut unrelativierbaren Rechtsgrund. Ihm nachzusagen, er wolle die unantastbare Menschenwürde „antastbar“ machen, ist also infam. Wer so streng denkt wie Dreier (und das sollte man doch wenigstens honorieren), kommt aber in bestimmten Situationen an Pflichtenkollisionen rein logisch gar nicht vorbei – und an Wertungswidersprüchen: Wenn ich von zwei Entführern einer Geisel den einen gefasst habe, darf ich ihn nicht für einen Augenblick zur Aussage über den Fundort zwingen, aber den zweiten, der mit der Geisel fliehen will, umstandslos erschießen. Vernünftigerweise muss man also die Menschenwürde als jene oberste Vorsatzlinse betrachten, durch die alle anderen Grundrechte und Gesetze verbindlich zu interpretieren sind.

Ganz praktisch gesprochen: Natürlich muss die Folter ausnahmslos verboten bleiben. Und wenn ich je in eine Situation käme, in der ich tragischerweise gegen dieses Verbot glaubte verstoßen zu müssen, müsste ich mich dem Strafrichter stellen – und sagte vielleicht: „Lieber lebe ich mit der staatlichen Strafe als mit dem inneren Vorwurf, nicht alles getan zu haben, die Geisel zu retten. Nun urteilen Sie!“ Aber wenn über Horst Dreier geurteilt wird, verlange ich ein Mindestmaß an gedanklicher Fairness. Und an ehrlicher Einsicht in die Aporien des Rechts an seinen Grenzen.

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