zum Hauptinhalt

Meinung: Töten für die gute Tat

Was lehrt die Moral: Darf ein Passagierflugzeug, das auf ein Atomkraftwerk zurast, abgeschossen werden?

Nicht jedes Gesetz ist moralisch. Auch Juristen sind nur Menschen. Politiker können in Situationen geraten, in denen sie allein auf der Grundlage ihres Gewissens entscheiden müssen. So viel vorweg. Darf nun ein entführtes Passagierflugzeug, das auf ein ungesichertes Atomkraftwerk oder ein gut besuchtes Fußballstadion zurast, abgeschossen werden?

Die politisch-juristische Debatte über diese Frage verbietet sich. Die Kritik an Verteidigungsminister Franz Josef Jung und Innenminister Wolfgang Schäuble ist berechtigt. Sie war bereits berechtigt, als Ex-Verteidigungsminister Peter Struck vor vier Jahren die Diskussion eröffnete. Kein Gesetz kann ethische Grenzfälle eindeutig regeln. Doch in Zeiten des Terrors ist die Problemlage nicht mehr absurd. „Nine-Eleven“ hat das Irreale vieler Bedrohungsfantasien in den Raum des Potenziellen gerückt. Wer den Kopf in den Sand steckt, weicht einer Antwort bloß aus. Deshalb noch einmal: Darf das entführte Passagierflugzeug abgeschossen werden? Was lehrt uns die Moral? Und welche Moral?

Relativ rasch löst sich das Dilemma für Pazifisten und Utilitaristen auf. Der Pazifist sagt entschieden Nein, weil er jede Handlung ablehnt, durch die ein Mensch ums Leben kommt. Der Utilitarist sagt entschieden Ja, weil er den Wert einer Handlung vorrangig nach ihren Konsequenzen bestimmt. Maximiere das Gute und minimiere das Schlechte, ist sein Motto: Wenn du nur die Wahl zwischen zwei Übeln hast, entscheide dich für das Kleinere. Weil nun im Fußballstadion weit mehr Zuschauer durch das abstürzende Flugzeug getötet würden, als sich Passagiere in dem Flugzeug befinden, ist die Sache für ihn klar: Abschießen!

Doch die meisten Menschen sind weder strenge Pazifisten noch Utilitaristen. Sie sehen ein, dass es ein Verteidigungs- und Notwehrrecht gibt, das es erlaubt, einen Angreifer äußerstenfalls zu töten. Und sie lehnen die kalte Vorstellung ab, dass der Zweck stets die Mittel heiligt. Zumindest das Mordverbot – es ist strikt verboten, absichtlich einen unschuldigen Menschen zu töten –, gilt für sie absolut. Lässt sich dieses Verbot mit dem Gefühl versöhnen, dass es richtig sein kann, das entführte Flugzeug abzuschießen, weil es auch eine Hilfspflicht gegenüber jenen gibt, die unverschuldet in große Bedrängnis geraten sind?

Gegen das Bewirken des Todes Unschuldiger aufgrund dessen, was man tut, kann es ohne Inkohärenz kein absolutes Verbot geben. Wenn ein Arzt einem von fünf todkranken Menschen das begrenzt vorhandene lebensrettende Medikament verabreicht, sterben die vier anderen. Deren Tod darf er als vorhersehbaren Nebeneffekt seiner Handlung in Kauf nehmen, denn die der Tat zugrunde liegende direkte Absicht bestand in der Rettung eines Menschen. Der von ihm nicht beabsichtigte Effekt war der Tod der anderen.

In der Moralphilosophie spricht man in solchen Fällen vom Prinzip des doppelten Effekts: Es kann einen signifikanten Unterschied ausmachen, etwas absichtlich zu tun oder aber eine Konsequenz, die durch die Handlung eintritt, zu bewirken. Nicht alles, was anderen Menschen durch mein Tun widerfährt, habe ich ihnen absichtlich angetan. Der Erbauer einer Autobahn etwa nimmt wissentlich in Kauf, dass als Folge seines Tuns unschuldige Menschen sterben werden, aber er beabsichtigt das nicht.

Auf den Fall des entführten Passagierflugzeugs übertragen, heißt das: Wer dessen Abschuss befiehlt, tötet nicht vorsätzlich unschuldige Menschen. Weder wünscht er ihren Tod, noch trägt ihr Tod zur Erklärung der Tat bei. Sie wäre ebenso erfolgt, wenn keine Zivilisten an Bord gewesen wären. Wer dennoch behauptet, ein solcher Abschuss sei ein schweres Verbrechen, da Massenmord, leugnet die Lehre vom doppelten Effekt. Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Giftgaseinsatz gegen Kurden: In diesen Fällen wurden tatsächlich absichtlich unschuldige Menschen getötet. Ihnen allein galt die Gewalt. Stehen diese Verbrechen moralisch auf einer Stufe mit dem Abschuss des besagten Passagierflugzeugs? Wohl kaum. Die primäre Motivation würde in diesem Fall auf die Verhinderung einer Katastrophe zielen, nicht auf die Ermordung von Zivilisten.

Relevant für die moralische Bewertung ist auch der Umstand, dass die Passagiere ohnehin sterben würden – ob infolge des Absturzes oder des Abschusses. Für ihr Schicksal ist die Frage, ob es einen Abschussbefehl gibt, irrelevant. Wer aber ohnehin Opfer ist, kann nicht zum Opfer gemacht werden. Denken wir uns ein anderes Beispiel: Der Pilot eines Passagierflugzeugs erfährt beim Landeanflug, dass vom selben Rollfeld aus Terroristen mit einer Militärmaschine starten wollen, um Bomben auf Städte abzuwerfen. Dürfte nun dieser Pilot, um das zu verhindern, sein Flugzeug in die Militärmaschine lenken? Ganz klar Nein. Zwar wäre der Tod der Passagiere auch in diesem Fall nicht direkt beabsichtigt, aber sie würden geopfert für den guten Zweck. Ohne dieses Opfer würden sie weiter leben.

In einer Annäherung an das Abschussproblem lässt sich festhalten: Ein entführtes Passagierflugzeug, das auf ein ungesichertes Atomkraftwerk zurast, darf in Übereinstimmung mit dem Mordverbot nur dann abgeschossen werden, wenn 1.) die Information, dass eine Katastrophe bevorsteht, äußerst zuverlässig ist, 2.) diese Katastrophe erheblich größer ist als die schlechten Konsequenzen ihrer Verhinderung, 3.) der direkt beabsichtigte Effekt der Handlung allein in der Verhinderung der Katastrophe besteht und der Tod der Passagiere zwar vorhersehbar, aber unerwünscht ist, 4) die Unschuldigen ohnehin sterben, also nicht geopfert würden.

In welcher Welt wollen wir leben? Um diese Frage kreist jede Moral. Zwei Hinterbliebene stehen am Tag nach der Entscheidung vor dem Oberkommandierenden – die Ehefrau eines Passagiers, dessen Tod durch den Abschuss des entführten Flugzeugs in Kauf genommen wurde, um einen Atom- GAU zu verhindern, und die Ehefrau eines Mannes, der wie viele tausend andere Menschen durch einen Atom-GAU ums Leben kam, der nicht verhindert wurde, obwohl er hätte verhindert werden können. Beide Frauen sind traurig und wütend. Doch welche von ihnen verzeiht dem Oberkommandierenden eher? Die, die ihren Mann ohnehin verloren hätte, oder die, deren Mann zum Opfer einer unterlassenen Hilfeleistung wurde?

Wer meint, es sei die erste, braucht weder in Zynismus zu flüchten noch muss er an seiner Moral verzweifeln. Wer meint, es sei die zweite, irrt wahrscheinlich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false