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Meinung: Unsere Bronx soll schöner werden

Die Ukraine ist nach dieser Wahl näher an Europa, als wir denken

Dieses Wahlergebnis macht Hoffnung. Nicht nur darauf, dass der Demokrat Viktor Juschtschenko gegen den prorussischen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch die Stichwahl gewinnen möge. Sondern darauf, dass die Demokratie in diesem Land mitten in Europa sich so lebendig zeigt wie in keinem anderen GUS-Land – und die Ukrainer demonstriert haben, dass sie nicht einseitig auf den Kandidaten der Staatsmacht vertrauen. Und es macht Hoffnung darauf, dass der Westen sich endlich wieder daran erinnert, wo die Ukraine hingehört: nach Europa.

Nachdem Präsident Leonid Kutschma freiwillig auf eine - legale - dritte Amtszeit verzichtet hat, hatten die Ukrainer die Wahl zwischen mehreren ernst zu nehmenden Kandidaten. Ministerpräsident Janukowitsch liegt trotz der Wahlmanipulationen, die die OSZE gestern offen kritisiert hat, nur knapp in Führung, eine Stichwahl in zwei Wochen ist notwendig. In der Region ist das alles andere als selbstverständlich. In Weißrussland hat Diktator Lukaschenko mit seiner Wahlfarce vor zwei Wochen endgültig bewiesen, dass er sich aus Europa verabschiedet hat. In Russland demontiert Präsident Wladimir Putin auf regionaler Ebene gerade die letzten demokratischen Überreste. Von all den Despoten in Zentralasien und im Kaukasus ganz zu schweigen.

Die Ukraine ist kein demokratisches Land. Medienzensur, Korruption und der autokratische Regierungsstil von Präsident Kutschma und seiner Regierung haben dem Land das Etikett der „Bronx Europas“ eingebracht. Das Wahlgesetz öffnet der Manipulation Tür und Tor – übrigens vor allem im zweiten Wahlgang. Auch am vergangenen Sonntag dürften nach Ansicht westlicher Beobachter bereits fünf bis zehn Prozent der Stimmen für Janukowitsch von Regierungsseite „aufgeschlagen“ worden sein.

Europa kann das nicht gleichgültig sein. Allein schon deshalb nicht, weil die Ukraine wirtschaftlich immer wichtiger wird: Die ukrainische Wirtschaft boomt, ist im vergangenen Jahr um zwölf Prozent gewachsen. Der angeblich so russlandfreundliche Janukowitsch bevorzugte bei der Privatisierung der profitablen Stahlindustrie einheimische Bewerber gegenüber russischen Oligarchen. Und die Landwirtschaft in der einstigen Kornkammer der UdSSR hat ein erhebliches Wachstumspotential.

Doch die Ukraine ist seit Jahren vom Europa-Diskurs so gut wie ausgeschlossen. Stattdessen überließ der Westen die Ukraine lieber Russland, um bei der EU- und der Nato-Erweiterung seine Ruhe zu haben. Die Ukraine ist aber nicht West-Russland.

Die Menschen, die für Ministerpräsident Janukowitsch gestimmt haben, haben genau darauf reagiert. Sie fragen sich: Was soll denn die von Herausforderer Juschtschenko angekündigte Hinwendung an den Westen, wenn der sich gar nicht für uns interessiert? Wenn die Europäische Union lieber mit der Türkei um den Beitritt verhandelt, als sich um ihren unmittelbaren Nachbarn zu kümmern? Ist da nicht Russland näher?

Deutschland und die EU haben in den vergangenen Jahren nicht immer glaubwürdig vermittelt, wie wichtig Europa für die Ukraine ist – und die Ukraine für Europa. Die Ukraine gehört kulturell zu Europa, sie ist als potenzieller Absatzmarkt und als Industriemacht wirtschaftlich relevant, und sie ist strategisch von erheblicher Bedeutung. Für die EU ist es Zeit, das wieder stärker zu erkennen. Mit einem wachen Auge auf die Umstände der Stichwahl in zwei Wochen, die Juschtschenko durchaus noch gewinnen kann. Mit Perspektiven für eine Heranführung an den EU- Binnenmarkt und in die WTO. Mit einer Roadmap für Visafreiheit. Und warum auf lange Sicht nicht mit einer Beitrittsperspektive?

Dann hätte die „ewig beargwöhnte und benachteiligte Weltgegend“, wie ihr großer Schriftsteller Juri Andruchowytsch seine Heimat nennt, eine wirkliche Hoffnung. Die Wahl vom Wochenende kann dafür ein Anfang gewesen sein.

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