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US-Gesundheitsreform: Nur kein Zwang

Freiheit vor Sicherheit: Das macht die Gesundheitsreform in den USA so umstritten. Jetzt muss das Oberste Gericht über sie urteilen.

Wer will, kann es sich einfach machen: Die spinnen halt, die Amis! Wie kann man ernsthaft infrage stellen, dass jeder Mensch eine Krankenversicherung braucht? Wenn die fehlt, können ganze Familien an den Behandlungskosten einer schweren Erkrankung bankrottgehen.

Auch die Vergleiche, die Oberste Richter bei der dreitägigen Anhörung zur Verfassungsmäßigkeit von Präsident Obamas Gesundheitsreform zogen, werden Deutsche verblüffen und empören. Darf man eine Krankenversicherung als gewöhnliches Produkt betrachten und, zum Beispiel, mit Brokkoli gleichsetzen – nach dem Motto: Wenn Regierung und Kongress heute jedem eine Versicherung vorschreiben, was hält sie davon ab, morgen alle Bürger zum Verzehr von Brokkoli zu zwingen, weil das die Gesundheit fördere?

In solchen Momenten wirkt Amerika plötzlich fremd. Bei näherem Hinsehen muss es das aber nicht sein. Obamas Gesundheitsreform dreht sich um die ganz großen Fragen jeder Gesellschaft: Wie ist das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Solidarität?

In den USA wird der Streit darum bis heute mit großer Offenheit und Brutalität ausgetragen. Deutschland ist eine Konsensgesellschaft. Manche Kernfragen werden kaum noch laut gestellt. Es ist in Vergessenheit geraten, dass Antworten, die der Mehrheit heute als selbstverständlich erscheinen, noch vor wenigen Jahren auch bei uns umstritten waren. Der Zwang, eine Versicherung zu kaufen, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit mündiger Bürger.

Die große Mehrheit der Amerikaner findet, dass jeder eine Krankenversicherung haben sollte. Aber ungefähr die Hälfte meint, dass der Staat das nicht vorschreiben dürfe. Ja zur freiwilligen Versicherung, nein zur Pflicht. Diese Abwägung galt auch in Deutschland bis vor kurzem. Nur wer unter einer Einkommensgrenze lag, musste eine gesetzliche Versicherung abschließen. Wer genug verdiente, um das Risiko zu tragen, durfte entscheiden, ob er sich gesetzlich, privat oder gar nicht versichert. Dies hat sich erst kürzlich geändert.

Die Mehrheit der Amerikaner meint, dass jeder Kranke versorgt werden muss. Krankenhäuser weisen niemanden ab. Wer aber keine Versicherung haben will, muss dann eben die Folgen tragen, bis zur persönlichen Pleite.

Bis heute stellen viele Amerikaner ihre Entscheidungsfreiheit über den wohlmeinenden staatlichen Zwang zur Sicherheit. Der Reflex gründet sich auf ihr Bild von der Gründungsgeschichte. Die ersten Siedler flüchteten vor staatlichem Zwang aus Europa. Amerika gründet sich auf die Prinzipien von Freiheit und Selbstverantwortung. Nicht alle denken so. Die Mehrheit will jedoch keinen Fürsorgestaat.

Die Richter entscheiden im Juni. Jetzt haben sie nur die Argumente angehört. Niemand weiß mit Sicherheit, wie das Urteil ausfällt. Aber allen ist klar: Wenn sie die Reform ablehnen, ist das auch ein Verdikt gegen Präsident Obama und die europäische Prioritätensetzung, dass Sicherheit vor Freiheit geht. Amerika will anders sein.

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