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POSITIONEN: Wenn das Verfassungsgericht zwölf Mal klingelt …

… dann ist klar: Der Gesetzgeber braucht mehr externen Sachverstand

In der politischen Diskussion früherer Jahre war der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit der lauteste und bedrohlichste Vorwurf. Er wurde damals vom politischen Gegner auf das Schärfste zurückgewiesen, und diese Zurückweisung wurde meist noch zur Bestärkung mit dem Hinweis versehen, gerade die Achtung und Verteidigung des Grundgesetzes sei doch die oberste Maxime des eigenen Handelns.

Den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit staatlichen Handelns hört man jetzt öfter und lauter als je zuvor. Allerdings nicht mehr nur im Rahmen hitziger politischer Diskussionen, man kann ihn vielmehr in geradezu gleichförmiger Regelmäßigkeit in Urteilen und Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts nachlesen – so wie jüngst im Urteil über die Vorratsdatenspeicherung.

Es ist die 12. Entscheidung in der Hauptsache, mit der das oberste deutsche Gericht Gesetze des Deutschen Bundestages ganz oder zumindest teilweise für verfassungswidrig erklärt hat. Ob Lauschangriff, Rasterfahndung, Luftsicherheit, automatischer Abgleich von Kfz-Kennzeichen oder Online-Durchsuchung oder eben Vorratsdatenspeicherung – in jedem Einzelfall mussten sich die Parlamentarier des Deutschen Bundestages und der Länderparlamente bescheinigen lassen, dass die von ihnen verabschiedeten Gesetze nicht im Einklang mit der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung standen. Der Grund lag nicht in juristischen Spitzfindigkeiten, es ging bei all diesen Urteilen um den Kernbereich unserer Verfassung. Unser oberstes Gericht bescheinigte den Parlamentariern, dass sie den unantastbaren Kern der Menschenwürde in aller Regel nicht hinreichend beachtet haben.

Sowohl die Qualität als auch die Quantität der vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstöße belegt, dass es sich eben nicht nur um ein Problem im Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem unseres Gesetzgebungsverfahrens handelt. Entgegen landläufiger Ansicht wird die eigentliche parlamentarische Arbeit sowohl im Bundestag als auch in den Landesparlamenten nicht in den großen öffentlichkeitswirksamen Plenarsitzungen geleistet. Viel entscheidender für die Qualität eines Gesetzes ist die Arbeit der Parlamentarier in den Ausschüssen.

Wenn etwas im parlamentarischen Betrieb schiefläuft, dann an dieser Nahtstelle des Gesetzgebungsverfahrens. In diesen Ausschüssen – und nicht vom Bundesverfassungsgericht – muss die Verfassungsmäßigkeit jenseits jeglichen parteipolitischen Gezänks sorgfältig geprüft, bewertet und aufgearbeitet werden. Erst wenn in den Ausschüssen über alle Parteigrenzen hinweg die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzentwurfs gewährleistet ist, kann dieser Entwurf dem Deutschen Bundestag oder den Landesparlamenten ruhigen Gewissens zur Beschlussfassung empfohlen werden.

Wenn – wie die Urteile des Verfassungsgerichts belegen – die Gesetzesvorlagen aus den Ministerien verfassungswidrig sind, muss das Parlament seiner Verantwortung in diesen Ausschüssen gerecht werden. Wenn – und dafür gäbe es viel Verständnis – die Prüfung eines Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit durch den einzelnen Parlamentarier in der Kürze der Zeit oder aufgrund komplexer Fragestellungen nicht selbst geleistet werden kann, dann muss konsequent externer Sachverstand beigezogen werden.

Auch bislang führen diese Ausschüsse öffentliche Anhörungen durch. Die Entscheidung allerdings, ob überhaupt und wenn ja, wer, wann und in welchem Umfange gehört wird, entscheidet der Ausschuss – meist nach politischen Vorgaben. Verbindliche Regelungen gibt es nicht. Will man sich nicht damit abfinden, dass das Bundesverfassungsgericht in der Zwischenzeit zur verlängerten Werkbank des Gesetzgebers geworden ist, dann muss man die Parlamente stärken und den Parlamentariern weit mehr als bislang die Gelegenheit geben, externen Sachverstand, sei es durch Anwälte oder Hochschulprofessoren, zu nutzen, um ihrer vornehmsten Aufgabe, verfassungsgemäße Gesetze zu beschließen, auch wirklich gerecht zu werden.

Wenn – wie in der Vergangenheit – die Ministerien nicht in der Lage sind, die Verfassungsmäßigkeit ihrer Gesetzesvorlagen zu gewährleisten, brauchen wir verbindliche Regelungen für Expertenanhörungen im Gesetzgebungsverfahren. Nur so gewinnt das Parlament die eigene Entscheidungshoheit wieder.

Der Autor ist Vizepräsident des Deutschen und Vorsitzender des Berliner Anwaltvereins.

Ulrich Schellenberg

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