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Religion und Gesellschaft: Wer gehört zu uns?

Die Debatte, ob "der Islam" nun zu Deutschland gehört oder nicht, lebt von Übertreibungen und Geschichtsvereinfachungen. Das Christentum, jedenfalls das amtlich verfasste Kirchentum, gehört jedenfalls nicht zu den unmittelbaren Wurzeln unserer politischen Verfassung.

Gewiss gehören die bei uns lebenden Muslime zu uns, wenn sie unsere Verfassungs- und Rechtsordnung akzeptieren; dann gehören sie auch mit ihrer Religion zu uns. Diese Tatsache haben wir, die – im althergebrachten Sinne – „eigentlichen Deutschen“ gerade als Ausdruck unserer Verfassungsordnung bewusst zu akzeptieren.

Als Bundespräsident Wulff daraus die Formulierung machte, „der Islam“ gehöre zu Deutschland, hat er diese Tatsache historisch und verfassungspolitisch überdreht. Man muss ja nur das Ensemble unserer Rechtsordnung neben die Scharia legen, unsere Differenz zwischen Staat und Kirche neben den theokratischen Anspruch des Islam, unser individualistisches Freiheitsverständnis hier neben den patriarchalischen Ordo dort, um sofort zu bemerken, dass „der Islam“ eben nicht zu den normativen Quellen unserer politischen und gesellschaftlichen Verfassung zählt – und so auch nicht gehören sollte.

Insofern hatte der neue Innenminister Hans-Peter Friedrich durchaus ein Argument für sich, als er an dieser Stelle eine Übertreibung auf den Boden der Tatsachen und Normen zurückführen wollte. Die sich daran, wie zu erwarten, anschließende Polemik mit ihrem so langweiligen Reiz-Reaktions-Schema schiebe ich einmal beiseite und konzentriere mich auf die gegenteilige, nun auch von CSU-Chef Seehofer prachtvoll propagierte Behauptung von den jüdisch-christlichen Wurzeln unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Denn auch diese These stellt auf ihre Weise eine trügerische Geschichtsvereinfachung, um nicht zu sagen: Geschichtsklitterung dar.

Das fängt schon damit an, dass man aus Gründen der politischen Korrektheit heute nicht mehr nur von den „christlichen Wurzeln“ spricht, sondern seine Aufgeschlossenheit mit der Formel „jüdisch-christlich“ zu dokumentieren versucht. Wohl wahr, die christliche Urgemeinde ist ebenso wie ihr Anstifter Jesus von Nazareth als Muster betont jüdischer Frömmigkeit aus dem Judentum hervorgegangen und in einem schmerzlichen Prozess dann aus ihm herausgetreten; der Apostel Paulus als ehemaliger Christenverfolger Saulus ist für diesen Prozess eine Modellfigur. Aber bis 1945 hat diese Tatsache hierzulande fast niemand wahrhaben wollen oder gar propagiert, am wenigsten das etablierte Mehrheitschristentum – mit all den antijüdischen Reden von den Kanzeln und schließlich den antisemitischen Mordbefehlen aus den Kanzleien nach 1933.

Aber auch davon – was alles andere als einfach ist – abgesehen, gehört das Christentum, jedenfalls das amtlich verfasste Kirchentum, nicht zu den unmittelbaren Wurzeln unserer gegenwärtigen politischen Verfassung, allenfalls als zu überwindender Gegenpol. Gerade als, wie man so sagt, guter Protestant muss man doch bußfertig eingestehen, dass unsere Freiheits- und Menschenrechte, dass auch unsere obrigkeitskritische demokratische Ordnung weithin gegen den Widerstand nicht nur der weltlichen, sondern eben auch der kirchlichen Autoritäten erkämpft werden musste. Der beim Konstanzer Konzil verbrannte Johannes Hus und der in Genf auf Geheiß von Johannes Calvin verbrannte Michael Servet hätten beim jüngsten Gericht einiges zu berichten über die damalige humane Praxis der christlichen Ordnung.

Was folgt daraus? Dass unsere freiheitliche und demokratische Grundordnung zwar die Religionsfreiheit zu ihren Grundfesten zählt, dass sich aber das Nebeneinander und Miteinander der verschiedenen Religionen (und Religionslosen!) allein nach dem Vorrang dieser von Staats wie von Bürger wegen wie einen Augapfel zu verteidigenden politischen Ordnung (samt allen Grundrechten) zu richten hat. Wer dieses Prinzip hochhält und verteidigt, der gehört zu uns.

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