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Meinung: Wissen und Erkenntnis

Das Higgs-Boson erklärt die Welt – und ist doch kein Generalschlüssel zum Universum

Von Anna Sauerbrey

Treffer. Nach jahrzehntelanger Suche haben die Forscher am Cern in Genf das Higgs-Boson, das „Gottesteilchen“, gefunden – wahrscheinlich. Sind wir Gott ein Stück näher?

Wie kaum ein anderes Forschungsprojekt steht die Suche nach dem Higgs-Boson für den alten Menschheitstraum, eine Art goldenen Schlüssel zu finden, der alle Rätsel erschließt, der das Tor zu Erkenntnis öffnet, der die eine Erklärung liefert: Warum wir sind. Das hat verschiedene Gründe. Obwohl sie hoch spezialisiert ist, bleibt die Suche nach dem Higgs- Boson als Teil eines umfassenden Erklärungsmodells erkennbar, ein Modell, das den Anspruch erheben darf, zwar nicht die ganze Welt, aber doch sehr wichtige Grundregeln zu erklären. Nach dem Standardmodell der Teilchenphysik sind die Higgs-Teilchen dafür verantwortlich, dass die meisten der übrigen Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Das Higgs-Feld ermöglicht die physikalische Welt, wie sie uns ermöglicht. Messen lässt sich das Higgs-Teilchen erst, indem man andere Teilchen kollidieren lässt. Der Beweis wird geführt im Moment der Verflüchtigung – das ist Poesie, das lädt zum Träumen ein.

Wissenschaft aber funktioniert anders. Es sind Hypothesen, die die Forschung leiten. Auch am Anfang der Suche nach dem „Gottesteilchen“ stand eine Idee, ein Modell, das erklären könnte, wie die Welt funktioniert, das aber erst experimentell getestet, belegt oder falsifiziert werden musste. Die Hypothese allein schließt das Universum nicht auf.

Auch die Ergebnisse der Experimente sind oft Konjunktive, kein Ja oder Nein, sondern eine Aussage darüber, wie wahrscheinlich Ja und Nein sind. Selbst gestern, auf dem Höhepunkt der Champagnerlaune, war den Cern-Forschern nur ein weiterer Konjunktiv zu entlocken. Man habe ein Teilchen entdeckt, das mit sehr großer Wahrscheinlichkeit das Higgs-Boson sei, sagte ein Sprecher.

Die Wissenschaftler haben Vorsicht trainiert. Wissen, das haben sie verinnerlicht, verhält sich zu mehr Wissen umgekehrt proportional. Je mehr man weiß, desto komplizierter wird eine Angelegenheit. Je mehr man entdeckt, desto mehr neue Fragen stellen sich. Sokrates brachte es auf die häufig zitierte Formel: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Er meinte: Das Eingestehen der eigenen Defizite ist ein wichtiger Schritt zur Erkenntnis.

Auf das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich daraus ergibt, reagieren Menschen unterschiedlich. Manche greifen nach einem Generalschlüssel zum Weltverständnis. Eine Universalerklärung heißt Gott, und es ist eine mächtige Erklärung, der auch viele Wissenschaftler anhängen.

Doch braucht es ihn überhaupt, den Generalschlüssel zu allem? Wäre die Welt nicht ohne Rätsel schnöde und fad, für Religiöse ebenso wie für Rationalisten? So ist vielleicht auch der Physiker Johannes Haller zu verstehen, als er gestern sagte: „Spannender wäre es natürlich, wenn wir das Higgs- Teilchen doch nicht finden.“ Auch ohne dass das Standardmodell der Teilchenphysik auf den Kopf gestellt wird, kann Haller wohl trotz der Higgs-Entdeckung beruhigt sein. Wir sind weit entfernt vom endgültigen Verstehen der Welt.

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