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Radpioniere unter sich: Der 2002 verstorbene Shimano-Chef Shozo Shimano und Andries Gaastra

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100 Jahre Shimano: Wie Andries Gaastra die populäre Marke nach Europa holte

Anfang der 80er Jahre war Shimano fast unbekannt in der Radszene Europas. Was Andries Gaastra und auch das Team Capri Sonne mit dem Durchbruch zu tun haben.

Schwer gezeichnet tritt Peter Winnen die 10 bis 12 Prozent steilen Kehren nach Alpe d’Huez hinauf, es ist der französische Nationalfeiertag, der 14. Juli 1981 – und der Niederländer gewinnt für das Team Capri-Sonne die Königsetappe. Teammanager ist Walter Godefroot, der später das Team Deutsche Telekom leitete, welches nach großen Erfolgen in einem Dopingskandal versank.

Das Besondere bei Winnens Triumph: Damals fährt kaum jemand von den Profis mit einer Shimano-Schaltung, die meisten setzen auf Schaltungen des italienischen Herstellers Campagnolo.

Aber Winnen vertraut der Pionierarbeit von Andries Gaastra, dem Gründer der Rennradmarke Koga Miytata, der auf japanische Rahmen und Shimano-Schaltungen setzt - und das Team Capri Sonne mit seinen Rennrädern versorgt.

Und solche großen Erfolge machen Shimano zu jener Zeit dann auch in Europa bekannter, es beginnt ein ungeahnter Siegeszug.

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Das japanische Unternehmen feiert dieses Wochenende seinen 100. Geburtstag. Klick, klick, klick, das reibungslose schnelle hoch- und runterschalten, die Langlebigkeit der Ketten, sind Markenzeichen. Die Schalt- und Bremssysteme wie die der Dura-Ace- oder der Ultegra-Gruppe kennt fast jeder (Renn)radfahrer, in den meisten Rennradrädern und Mountainbikes steckt heute Shimano.

Damals Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre ist Shimano in Europa nur Kennern ein Begriff, viele Räder sind mit italienischen oder französischen Schaltungen bestückt.

Inzwischen hat der Konzern 12.000 Mitarbeiter, der Marktanteil für Radkomponenten liegt bei rund 80 Prozent, der Jahresumsatz bei über drei Milliarden Euro. Durch Corona boomt das Radgeschäft – und für Shimano ist Europa heute mit 40 Prozent Anteil der wichtigste Markt. Wo andere auf das neue iPhone warten, wird in der Rad-Szene auf Shimano-Neuerungen gewartet. Schon vor 30 Jahren entwickelte das Unternehmen Klickpedale im Mountain- und Rennradbereich.

Durchbruch mit dem Schalt- und Bremshebel

Spätestens als Shimano um die Jahrtausendwende den kombinierten Schalt- und Bremshebel entwickelte, zog der Konkurrent uneinholbar an den anderen wie Campagnolo vorbe; zumal diese oft teurer sind. Heute mischt in diesem Konzert der großen Schaltungshersteller vor allem noch SRAM aus den USA mit.

„Das war eine gigantische Sache, eine Revolution“, sagte Gaastra im Gespräch mit dem Tagesspiegel rückblickend. Allerdings verschlief das Unternehmen im Rennen mit Bosch zunächst den E-Bike-Trend und bei den inzwischen gängigen Scheibenbremsen gab es Probleme bei starker Belastung mit sich erhitzenden Aluminiumscheiben.

Das Team Capri Sonne 1981, das als eines der ersten auf Shimano-Schaltungen setzte.

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Zwei dem Radsport verpflichtete Familien

„Man konnte sich fast immer hundertprozentig auf die Qualität verlassen“, meint Andries Gaastra. Die Geschichte des Fahrradteile-Herstellers in Europa lässt sich nicht ohne Andries Gaastra erzählen.

Seine Familie und die der Shimanos stehen für Traditionen - und ihre Geschichten sind miteinander verwoben. Doch wie genau kam es dazu, dass er dem Unternehmen in Europa zum Durchbruch verhalf?

Vier Generationen Radbau

Andries Gaastra kann stundenlang wunderbar erzählen über seine Geschichte und wie er Shimano nach Europa brachte, sehr empfehlenswert auch im Fahrradpodcast „Antritt“ von detektor.fm. Er ist heute 81. Nach 22 wie er sagt fantastischen Jahren in Kanada, lebt er mit seiner Frau Marion nun im belgischen Antwerpen. Er ist das beste Beispiel, dass man auch im Alter keinen Gang runterschalten muss. Drei Mal die Woche Joggen, Golfen, Pilates – und natürlich weiterhin Fahrräder bauen.

Auch seine Geschichte ist eine besondere, vor allem die Suche nach der Perfektion brachte ihn mit den Japanern zusammen, aber sie war ihm quasi in die Wiege gelegt.

„Wir sind die Familie, die weltweit am längsten im Fahrradgeschäft tätig ist“, sagt er. Nämlich in der vierten Generation. Sein Opa gründete 1904 den Radbauer Batavus.

Es gibt ein altes Schwarz-Weiß-Bild aus der Anfangszeit, die Räder wurden damals noch mit Pferdekutsche zum Verkaufsladen geliefert. Gaastras Vater, der auf dem Bild als ganz kleiner Junge fasziniert auf die vielen Räder starrt, übernahm das Unternehmen. Nach dem Verkauf von Batavus begann Andries Gaastra mit Koga Miyata etwas Neues. Sein Sohn Gerrit führt heute den Radbauer idworx in Wachtberg bei Bonn.

Erst eine Notlösung

Eigentlich war das Setzen auf Shimano anfangs eine Notlösung, noch bei Batavus hatten sie in den 1970er Jahren einen Großauftrag in die USA, Verkaufsleiter war damals Andries Gaastra. Es gab Lieferprobleme mit französischen Gangschaltungen. „Wir waren sehr froh, dass Shimano die Lücke füllen konnte.“ Bevor die Japaner auch immer bessere Bremssysteme entwickelten, setze Gaastra übrigens auf Altenburger Bremsen aus dem baden-württembergischen Jestetten.

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1974 gründete Gaastra mit seiner Frau dann das Radunternehmen Koga – er fügte die ersten zwei Buchstaben des Nachnamens seiner aus Hamburg stammenden Frau Marion Kowallik mit denen seines Nachnamens zusammen. Als er auf einer Radmesse in Köln hin und weg war von den Miyata-Rahmen, wurde daraus Koga Miyata. Und die Räder wurden als weitere japanische Komponente eben mit Shimano-Schaltungen bestückt.

Die Menschen hatten damals wegen erkämpfter Arbeitszeitverkürzungen mehr Zeit für die Freizeit, der Absatz dieses europäisch-japanischen Produkts zog schnell an. Gaastra vergleicht die Phase mit der Autoindustrie. Die japanische Präzision und der Ehrgeiz, immer den neuesten Stand der Technik zu repräsentieren, führte seinerzeit auch im Automobilsektor zu einer Umwälzung der Marktanteile, Nissan, Mitsubishi und Toyata wurden zur Konkurrenz für VW, Opel, Fiat Renault und Peugeot.

Erst belieferte Gaastra mit seinen Rädern das Profiteam Ijsboerke (eine Art belgisches Bo-frost), dann folge das besagte Team mit dem deutschen Hauptsponsor Capri Sonne - immer mit Shimano-Schaltungen.

Die Tour-Etappensiege von Winnen und Co. und der große Absatz der eleganten Koga Miyata-Räder machten Shimano in Europa bekannter - andere setzten nun auch zunehmend darauf.

Gaastra berichtet, dass es nach den Erfolgen erheblichen Druck auf den Hauptsponsor gab, und zwar aus Italien. Belegen lässt sich das nicht. Er spricht von einer "lomischen Geschichte". Capri Sonne wechselte für Gaastra überraschend 1982 auf andere Räder - mit Campagnolo-Schaltung.

Freundschaft mit den Shimano-Brüdern

Gaastra lernte damals die drei Shimano-Brüder persönlich immer besser kennen, er bekam die Shimano-Importrechte für die Benelux-Staaten, nicht von ungefähr ist die Shimano-Europazentrale heute in Eindhoven.

Von 1000 bis 6000 Mark reichte die Spanne damals für Gaastras Koga-Miyata-Rennräder. „Das war der Rolls Royce unter den Fahrrädern“, ruft seine Frau aus dem Hintergrund zu.

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Im Fotoalbum hat sie all die Bilder mit der Shimano-Familie fein säuberlich eingeklebt. Gegründet wurde der heutige Konzern 1921 von Shozaburo Shimano als kleines Eisenwerk. Der Durchbruch kam unter Shozo Shimano, der das Unternehmen von 1958 bis 1992 führte. Als er 2002 starb, wurde auch Gaastra zur Beerdigung in Sakai eingeladen. „Da waren 1500 Leute, auch die Regierung. Und ich wurde vorgestellt als der Türöffner und Brückenbauer in Europa.“

Auch mit den anderen – inzwischen ebenfalls verstorbenen - Brüdern Keizo und Yoshi baute Gaastra Freundschaften auf. Bis heute halten die Gaastras Kontakt zur Familie Shimano.

Der Unterschied etwa zu amerikanischen Lieferanten sei einfach, dass sie auch in schweren Jahren zu ihnen hielten, als Zölle stiegen und die Kosten wegen des starken Yen. „Zwei Schritte zurück, danach vier Schritte vor“, umschreibt er die Mentalität der Japaner. „Sie halten auch in schweren Zeiten die Treue, und danach wird’s dann wieder besser.“ Dazu der Service und die Perfektion, die enge Kooperation mit führenden Universitäten, von denen dann die besten Ingenieure später bei Shimano anfingen.

Steigt auch die 5. Generation in das Radgeschäft ein?

Andries Gaastra setzt darauf, dass sich auch die fünfte Gaastra-Generation vom Rad-Gen leiten lässt. So liebäugelt ein Enkel mit einem Praktikum in Japan, Shimano wäre natürlich genau die richtige Adresse, um die Brücke weiter zu bauen.

Sein Opa Andries feilt derweil weiter an der neuesten Idee, seinen Sofa Bikes. Mit der „Intelligent Seating Position“ (ISP) lassen sich gerade für ältere Nutzer Sattelhöhe und Oberrohrlänge reduzieren, die Rahmen sind so tief konzipiert, dass der Radfahrer immer sofort beide Füße auf dem Boden hat und nicht vom Rad absteigen muss, sondern im Sattel bleiben. „Gerade an Ampeln sieht man die gefährlichsten Ab- und Aufsteigeaktionen, bei denen oft Unfälle passieren“, sagt Gaastra.

Das ist etwas, was er von den Japanern gelernt hat: immer innovativ mit der Zeit gehen. Leerlauf ist für ihn ein Fremdwort.

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