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Politik: Afghanistan: Unter den Augen der Taliban

Bis zur Schule in Jaghori ist es ein weiter Weg. Drei Stunden brauchen die Schülerinnen jeden Morgen, viele von ihnen haben nicht einmal richtige Schuhe.

Bis zur Schule in Jaghori ist es ein weiter Weg. Drei Stunden brauchen die Schülerinnen jeden Morgen, viele von ihnen haben nicht einmal richtige Schuhe. Aber die Schule in Jaghori ist ihre einzige Chance, denn sie ist die einzige weiterführende Schule für Mädchen in ganz Afghanistan. Eine Mädchenschule im Land der Taliban? Manchmal wundert sich die afghanische Ärztin Sima Samar selbst, wie sie es erreicht hat, mit ihrer Organisation Shuhada 49 Schulen, fünf Krankenhäuser und 12 kleinere Kliniken in Afghanistan und Pakistan aufzubauen. Einfach sei es nicht gewesen, sagt sie heute. Aber sie habe sich ihren Raum geschaffen.

Zum Thema Online Spezial: Kampf gegen Terror Schwerpunkt: US-Gegenschlag, Nato und Bündnisfall Schwerpunkt: Osama Bin Laden Schwerpunkt: Afghanistan Schwerpunkt: Islam & Fundamentalismus Schwerpunkt: Innere Sicherheit Chronologie: Terroranschläge in den USA und die Folgen Fotostrecke: Bilder des US-Gegenschlags Umfrage: Bodentruppen nach Afghanistan? Die Mädchenschule liegt in der Provinz Ghazni, wo die ethnische Minderheit der Hazara lebt. Die Macht der Taliban, die der Volksgruppe der Paschtunen angehören, ist dort offenbar lange nicht so ausgeprägt wie in ihrem Kernland, der Region um Kandahar, oder in der Hauptstadt Kabul. Am Anfang waren auch die religiösen Führer der Hazara gegen die Mädchenschule, doch inzwischen unterstützen sie Sima Samars Projekt - nicht zuletzt, weil die Taliban dagegen sind. Die Mullahs der Hazara seien sogar zu den Taliban vor Ort gegangen, um ihnen zu erklären, dass deren Widerstand gegen die Mädchenbildung nicht vom Koran gedeckt sei, berichtet Samar. Irgendwie haben sie sich dann wohl auf eine Art stillschweigende Duldung verständigt: Jedes Mal, wenn eine hochrangige Taliban-Delegation aus Kandahar oder aus Kabul kommt, wird die Schule geschlossen. Aber kaum ist die Delegation abgereist, kann die Schule wieder öffnen. Auf verschiedene Weise versuchen die Taliban dennoch, den Lehrbetrieb zu stören. "Wir wissen nicht, ob sie nicht morgen oder übermorgen die Schule schließen", sagt Sima Samar. Der Druck ist nach wie vor hoch. "Aber wir lassen uns nicht beirren."

Durchhaltevermögen, Geduld und den festen Glauben an die Notwendigkeit ihres Engagements brauchte die 44-jährige Ärztin, um ihre Krankenhäuser und Schulen zu gründen und zu erhalten - in einem von mehr als 20 Jahren Krieg und Bürgerkrieg zerrissenen Land. Der Bau ihres ersten Krankenhauses, das ebenfalls in Jaghori liegt, dauerte fünf Jahre: Wieder und wieder wurde das Gebäude von Islamisten geplündert. "Aber ich machte trotzdem jedes Mal weiter", sagt die Ärztin.

Über sich selbst macht Sima Samar, die auf Einladung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes nach Berlin kam, nicht viele Worte. Diskriminierung hat sie seit ihrer Jugend gleich zweifach erfahren - als Frau in Afghanistan und als Angehörige der Hazara-Minderheit. Ihr Vater erlaubte ihr nicht zu studieren. Erst nach ihrer Heirat konnte sie ein Medizinstudium aufnehmen. Nach dem Putsch der pro-sowjetischen Regierung wurde ihr Mann eines Nachts abgeholt und verschwand. Dann kam die Invasion der sowjetischen Truppen, der Krieg begann. Die junge Witwe ging mit ihrem Sohn ins Hazara-Gebiet zurück, wo es zu der Zeit keine Krankenhäuser gab. Aber die Ärztin blieb, gerade deswegen. Seit 1984 lebt Sima Samar im pakistanischen Exil. Auch dort machte sie sich unter den Islamisten und den Mujahedin Feinde, als sie in Quetta zwei Krankenhäuser für afghanische Flüchtlingsfrauen gründete. Drohungen und Verleumdungen waren an der Tagesordnung. "Sie wollten mich entmutigen, aber ich hatte entschieden, diese Arbeit zu machen", sagt sie. Nach Afghanistan zu reisen ist ihr inzwischen zu gefährlich. Dabei geht es ihr nicht so sehr um ihre persönliche Sicherheit: "Aber wenn sie mich töten, beenden sie damit meine ganze Arbeit."

Die Angriffe der USA auf Afghanistan lehnt die engagierte Ärztin entschieden ab. Osama bin Laden könnten die Amerikaner mit Bomben nicht treffen, sagt sie. "Sie sollten einen besseren Weg finden und nicht das Land zerstören." Sie fürchtet, dass die Afghanen von humanitärer Hilfe abgeschnitten werden. Ihre Krankenhäuser und Schulen bleiben trotz der Angriffe geöffnet, sie liegen weit entfernt von möglichen Zielen wie Flughäfen oder terroristischen Ausbildungslagern. So können die Mädchen in Jaghori weiter zur Schule gehen. Auch wenn die Zukunft des Landes ungewiss ist, von einem ist Sima Samar überzeugt: "Der einzige Weg, die Gesellschaft zu ändern, ist durch Bildung."

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