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Grüßen sich herzlich. Die Finanzminister von Deutschland und Griechenland, Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis am 11. Februar 2015 in Brüssel.

© dpa

Was Spieltheorie und Antike über Griechenland aussagen: Als Athen die Bewohner von Melos hungern ließ

Athen ließ im Jahr 416 vor Christus die Insel Melos aushungern. Die Verhandlungsstrategie Athens mit den Meliern, wie sie der antike Historiker Thukydides in eine Theorie der Herrschaft überführt hat, sowie die moderne Spieltheorie könnten etwas über die aktuellen Machtspiele zwischen Griechenland und der Eurogruppe aussagen.

Von Andreas Oswald

Hat der Schwächere, Ärmere und Unterlegene grundsätzlich Recht? Diese Frage, die im gegenwärtigen Machtspiel zwischen Griechenland und den übrigen Staaten der Eurozone aufflammt, provoziert sowohl eine Betrachtung der Spieltheorie, der Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis anhängt, sowie der Ereignisse von 416 vor Christus, als Athen die Bewohner der Insel Melos zunächst aushungern und am Ende die Männer töten und Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen ließ. Hatte Athen damals Recht? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, sofern man nicht einfachen Vorstellungen edler Moral und Gerechtigkeit nachhängt.

Was damals geschehen ist, wurde von Thukydides nicht nur geschildert. Der antike Historiker entwickelte in seinem "Melierdialog" ein Spektrum von Fragen und Legitimationen von Machtpolitik, manche sagen, eine Philosophie der Macht, die bis in die heutige Zeit eine grundlegende und ungeschminkte Offenlegung der Wahrheit über Machtausübung darstellt.

Welche Überlegungen Athen und Melos verfolgten

In einer Friedensphase im 27-jährigen Peloponnesischen Krieg zwischen den Staaten Athen und Sparta versuchten die Athener, die Insel Melos, eine Kolonie Spartas, die sich im Krieg neutral verhielt, davon zu überzeugen, sich freiwillig Athen zu unterwerfen und sich dem attischen Bund anzuschließen. Theoretisch gab es drei Möglichkeiten. Entweder Melos unterwirft sich freiwillig, oder es bleibt neutral, oder Melos wird gewaltsam von Athen unterworfen. In den Verhandlungen brachten die Melier das Argument der Gerechtigkeit und des Rechts ein.

Das verwarfen die Athener, weil diese Prinzipien das Recht des Stärkeren verletzten. Recht und Gerechtigkeit seien nur Kategorien, um Konflikte zwischen gleich starken Mächten zu regeln, sagten die Athener.

Daraufhin verfielen die schwachen Melier auf eine manipulative Argumentation. Sie verwiesen darauf, dass auch der Starke eines Tages einmal schwach sein könnte, weshalb Recht und Gerechtigkeit als Grundprinzipien auch für den Stärkeren langfristig nützlich sein könnten. Athen erwog die Überlegung nicht einmal.

Die starken Athener hatten starke Argumente. Sie lauteten: Nutzen, Profit, Sicherheit, Pragmatismus und Realisierbarkeit. Jedes Argument außerhalb dieser Begrifflichkeit war aus Athener Sicht verlogen.

Die freiwillige Unterwerfung würde die Vernichtung der Melier vermeiden, wovon diese profitierten. Die Athener würden von der Ausbeutung der Wirtschaft der Insel profitieren.

Warum das starke Athen nicht nachgeben konnte

Eine Neutralität wollte Athen nicht hinnehmen, weil dadurch andere Untertanen das als Schwäche auslegen und ebenfalls Forderungen aufstellen würden. Das manipulative Argument der Melier, ihre gewaltsame Unterwerfung werde auch andere Neutrale gegen Athen aufbringen, durchschauten die Athener und ließen sich folgerichtig nicht darauf ein.

Als die Melier argumentierten, Widerstand halte wenigstens ihre Ehre aufrecht, hielten die Athener das für schlicht dumm, weil die Melier nicht die geringste Chance hatten zu gewinnen. Als die Melier sich auf die Götter beriefen, die sich gerecht auf die Seite der Schwachen werfen würden, argumentierten die Athener, ebendiese Götter würden sich ganz im Gegenteil auf die Seite des Stärkeren schlagen. Dabei fiel ein weiterer entscheidender Satz in dem Melierdialog des Thukydides: "Es ist des Menschen Natur zu herrschen." Und noch ein Satz war entscheidend. Die Melier würden dasselbe tun, wenn sie stärker wären, sagten Athens Unterhändler.

Die Melier entschieden, sich zu widersetzen. Athen belagerte die Insel um sie auszuhungern, als das zu lange dauerte, wurden alle Männer auf Melos getötet, Kinder und Frauen in die Sklaverei verkauft.

Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Als die Athener das Gleiche mit Sizilien machen wollten, zogen sie den Kürzeren und verloren im Anschluss den ganzen Peleponnesischen Krieg mit Sparta.

Aber was sind die Schlussfolgerungen für das gegenwärtige Tauziehen zwischen Griechenland und der Eurogruppe? Es sind vor allem Fragen, die sich ergeben. Reicht es, sich auf das Recht des Schwächeren zu berufen? Oder auf Gerechtigkeit? Andererseits: Sind die Argumente der schwachen Melier gegenüber dem starken Athen möglicherweise nicht nur manipulativ, sondern zumindest in Teilen auch für den Mächtigen überzeugend?

Yanis Varoufakis und die Spieltheorie

Dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis eilte der Ruf eines Spieltheoretikers voraus. Auch daraus ergeben sich Fragen, die im Zusammenhang mit den aktuellen Verhandlungen um Griechenlands Zukunft interessant sein könnten. Die Spieltheorie kennt viele Aspekte. In diesem Zusammenhang geht es unter anderem um den "chicken run", auch "game of chicken" genannt. Ein anderes Prinzip ist "tit for tat" mit verschiedenen Variationen.

Den "chicken run" kennen viele aus dem Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" mit James Dean in der Hauptrolle. Dabei fahren zwei Halbstarke mit ihren Autos auf eine Klippe zu. Wer zuerst abspringt, hat verloren. In der Spieltheorie ist das Bild geringfügig anders. Die Kontrahenten fahren mit ihren Autos auf eine einspurige Brücke zu. Wer zuerst weicht, gibt dem anderen den Weg frei. Gibt keiner nach, prallen beide auf die Brückenpfeiler und sind tot.

Yanis Varoufakis sagt, er könne nicht klein beigeben, ihm seien die Hände gebunden, weil die griechischen Wählerinnen und Wähler dies von ihm verlangen. Der Konflikt besteht aber darin, dass den griechischen Wählern die gewählten Regierungen der anderen Länder gegenüberstehen, die ihren Auftrag so verstehen, dass ihre Wähler nicht den maroden Staat der Griechen finanzieren wollen. Es besteht die Gefahr, dass diese spieltheoretische Überlegung dazu führt, dass keine Seite nachgibt.

Die Frage ist, ob die Spielanleitung überhaupt stimmt. Die Staaten der Eurozone sind der Ansicht, sie hätten ihre Banken so stabilisiert, dass ihnen eine Staatspleite Griechenlands nichts anhaben kann. Varoufakis hat mehrfach erklärt, wenn Griechenland untergehe, gehe ganz Europa unter.

Für die Eurozone stellt sich eine ähnliche Frage, wie den Athenern 416 vor Christus. Wenn sie Griechenland nachgibt, werden andere Länder ebenfalls Forderungen stellen. Dabei wären wir bei der oben genannten Philosophie der Macht bei Thukydides.

Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen, dass sich beide Seiten an das Vereinbarte halten, gibt es keine Einigung

Beide Seiten sollten vorsichtig sein. Athen gewann und verlor am Ende. Dieses Schicksal droht jedem der Spieler. Zum Glück. Dadurch sind sie zur Kooperation gezwungen. Zum Thema Kooperation gibt es das spieltheoretische Prinzip des "tit for tat". Wenn sich eine Seite in einem Verhandlungsgespräch unkooperativ verhält, dann tut ebendies die andere Seite beim nächsten Gespräch. Verhält sich die andere Seite wieder kooperativ, tut man dies ebenfalls. Es gibt viele Variationen davon. So kann sich die eine Seite dazu entschließen, erst dann ein Mal unkooperativ zu werden, wenn die andere Seite sich zweimal hintereinander unkooperativ verhalten hat. Das hin und her bei den aktuellen Verhandlungen zwischen der Eurogruppe und Griechenland könnte darauf hindeuten, dass "tit for tat" oder eine Variation davon eine Rolle spielt. Aber kein spieltheoretisches Konzept löst den Konflikt, wenn eines nicht gegeben ist: ein Mindestmaß an Vertrauen, dass der andere sich an das Vereinbarte halten wird. Das ist möglicherweise das Hauptthema.

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