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Ein Mann mit seinem Kind 1962 auf einer Demonstration.

© Günter Zint

50 Jahre Studentenproteste 1968: Als die Revolutionäre Kinder bekamen

Ist antiautoritäres Aufwachsen möglich? Mal gelang es, mal entgleiste es. Den Umgang mit Kindern reformierte die Bewegung jedoch nachhaltig.

Von Caroline Fetscher

Als Revolutionär erwartete man von Frauen, neben der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse, vor allem eins: bewundernde Hingabe. Anfangs war das Basissetting der Studentenrevolte relativ schlicht. Er hat Geist, sie wird begeistert. Er denkt, sie tippt. Er tigert rastlos dozierend auf und ab, sie stopft seine Socken, kocht ihm Tee und stillt das Baby.

Dann fragten die feministische Filmemacherin Helke Sander und ihre Mitstreiterinnen: „Warum machen die Frauen die praktische Arbeit, die Männer die theoretische?“ Und überhaupt, wohin mit den Kindern, wenn auch die Mütter mal zum Teach-in wollen? Anfang 1968 hatten solche ketzerischen Fragen den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ entstehen lassen, ein glatter Affront gegen die Männer vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund, vom SDS.

Ob „Häuptlinge“ oder „Indianer“, wie sie gern mit Karl May von sich sagten, es handelte sich auch beim SDS um klassische Machos. Andere Rollenmodelle boten ihnen weder die eigenen Väter noch die legendären Väter der Bewegung, Marx oder Mao. Väter, die Kinderwagen schieben oder sich Babys in Tragetüchern vor den Bauch binden, hätten vermutlich damals auf alle in der Gesellschaft wie Außerirdische gewirkt.

Frauen und Kinder galten als nebensächlich für die Revolution

Ein satirisches Flugblatt des „Frankfurter Weiberrats“, verteilt auf dem SDSKongress im November 1968 in Hannover, forderte im Parolenstil der Jahre: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ Befreien wollten sich jedoch vor allem die Emanzen selber, und zwar von der Rolle der sorgenden Mutter und dienenden Gefährtin. Frauen, Kinder, all das, was Gerhard Schröder noch Jahrzehnte später als „Gedöns“ bezeichnete, galt als nebensächlich für die Revolution, ihre Lage waren Nebenwidersprüche des Kapitalismus. Hätte der Mann erst einmal die Revolution bewältigt, würden auch Frauen und Kinder nach ihm durch die Tore der Freiheit schreiten.

Einstweilen musste allerdings jemand die Kinder hüten, füttern, trösten, und so wurden Kinderläden eröffnet: Selbstorganisierte, freie Kindergärten – zur Entlastung der Mütter und zur Befreiung der Kinder. Kinder solle man sehen, aber nicht hören, hieß es wie eh und je, und in der Bundesrepublik galt noch das „Züchtigungsrecht“. An Schulen war es bis 1973 in Kraft, in Bayern bis 1983 – für Eltern galt es übrigens noch bis Dezember 2000. An kommunalen und konfessionellen Kindergärten waren Gehorsam, Sauberkeit und „Artigsein“ Lernziele in Vorbereitung auf die Schuldisziplin in den Lernkasernen.

Nicht mit unseren Kindern! Darin waren sich viele einig beim SDS, als die dogmatischen Fixierungen der ersten Jahre nachließen. Das Private ist politisch, und man wollte weder Untertanen erziehen noch Kinder in deren Hände geben. Statt Folgsamkeit sollte Selbstvertrauen gelernt werden, Skepsis gegen blinde Gefolgschaft, wie Eltern und Großeltern sie millionenfach geleistet hatten. „Meine Generation ist mit einem Urmisstrauen erwachsen geworden“, stellt der Schriftsteller Peter Schneider fest. „Mit wem auch immer wir es damals zu tun hatten, egal, was einer tat, wie er sich gab, ob man ihn schätzte oder nicht – jeder konnte ein Täter sein, ein Massenmörder.“

Eine neue, eine bessere Generation sollte aufwachsen dürfen. Schon 1946 hatten „überlebende Demokraten“, wie sie sich bezeichneten, in Berlin die „Arbeitsgemeinschaft für neue Erziehung gegen Diktatur und Krieg“ gegründet und versucht, die Reformfäden Dutzender Pioniere aufzugreifen, die wie Ellen Key, Anton Makarenko, Ernst Federn oder Siegfried Bernfeld für gewaltfreie Pädagogik eingetreten waren. Bernfeld (1882– 1953) war dabei einer der ersten Freudomarxisten, die in der Repression von Sexualität einen Schlüsselaspekt der Unterdrückung im Kapitalismus sahen. Sämtliche Reformansätze der Weimarer Republik hatte der Nationalsozialismus ausgelöscht. Neue Impulse, auch für den Umgang mit Kindern, kamen jetzt meist von außerhalb des Landes.

Erste antiautoritäre Konzepte

1967 gründete die Soziologin Monika Seifert die „Kinderschule“ in Frankfurt am Main. Dieser erste „repressionsfreie Kindergarten“ der jungen Republik, in einem Altbau auf der Eschersheimer Landstraße 107, war das Pioniermodell. Seifert, 1932 als älteste Tochter des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich geboren, gilt als „Mutter der Kinderläden“ und war überzeugt: „Wir müssen Erziehung mittels Strafen und Belohnung aufgeben.“

1966 hatte Seifert in London studiert, wo sie an der Kirkdale School, dem Kindergarten ihrer kleinen Tochter, neben den Ideen von Alexander Sutherland Neill auch Jean und Paul Ritter begegnet war und deren Buch „The Free Family“. Seifert nahm die antiautoritären Konzepte als Import aus England mit zurück nach Deutschland.

Kinder, erklärte Seifert, sollten ihre Bedürfnisse frei äußern können und ohne Schuldgefühle aufwachsen. Was sie lernen, müsse sich an ihren Fragen orientieren. Die 20 kleinen Menschen in der „Kinderschule“, zu deren Team auch eine Psychologin gehörte, durften essen, wann ihnen danach war, Wände und Möbel mit Malereien schmücken, bekleidet oder unbekleidet spielen und toben und in der Gruppe mitentscheiden.

Im Dezember 1969 zeigte die ARD im Dokumentarfilm „Erziehung zum Ungehorsam“ von Gerhard Bott Szenen aus dem Alltag der „Kinderschule“. Zu sehen war unter anderem, wie Kleinkinder auf den Tasten eines Klaviers herumtrapsend Katzenmusik machten, ohne sich darum zu kümmern, dass die Erzieherin „Geht ihr da runter vom Klavier!“ rief.

Nicht nur wurde mit dem Klavier ein Symbol des sittsamen Bildungsbürgertums buchstäblich mit Füßen getreten, noch empörender schien die Insubordination der Kinder. Allerdings handelte es sich um ein szenisches Spiel, bei dem die Erzieherin die Rolle der „Meckertante“ hatte und die Kinder üben konnten, sich gegen sie zu wehren. Egal – Skandal. Die in blühenden Varianten kolportierte Klavierszene wurde emblematisch für die öffentliche Kritik an den Zuständen in Kinderläden, wo man offenbar auf jedwede rahmensetzende, behütende Aufsicht verzichtete.

Freilich sah das Konzept anders aus. „Ein selbstreguliertes Kind ist kein sich selbst überlassenes Kind im Sinne des ,Laissez-faire-Stils’“, hatte Monika Seifert geschrieben. Ein Kind könne „seine Bedürfnisse nur dann regulieren und seine eigene Interessenvertretung lernen, wenn es sich in der Geborgenheit eines stabilen Bezugsrahmens (Elternhaus, Kinderkollektiv) befindet“. Doch nicht nur die Kritiker, auch manche Adepten der Kinderladen-Bewegung ignorierten die entwicklungspsychologische Basis des Pionierprojekts.

Freie Entfaltung auch der infantilen Triebe

Hunderte Experimente entstanden mit hunderten „Kinderläden“, die ihren Namen übrigens aus Berlin bekommen hatten, wo wegen der Supermärkte kleine Läden Pleite machten. So war günstiger Gewerberaum zu haben für die Selbsthilfeprojekte der Mütter aus Kreuzberg, Charlottenburg oder Neukölln. In Berlin entstanden auch die legendären Wohngemeinschaften Kommune I und Kommune II, die mindestens so emblematisch wurden wie die Kinder auf der Tastatur des Klaviers.

Als sich das „Kursbuch 17“ von 1969 dem Thema „Frau Familie Gesellschaft“ widmete, schilderten vier Mitglieder der Kommune II darin die Versuche, auf die beiden Kleinkinder „nicht dauernd mit Verboten und Aggressionen zu reagieren“, sondern die freie Entfaltung auch der infantilen Triebe zuzulassen. Mehrere Passagen widmeten sich den lustbetonten Selbsterkundungen der Kinder, an denen Erwachsene teilhatten oder sie mit Anmerkungen kommentierten wie „Nasser ist einverstanden, dass Grischa zuerst seinen Penis streichelt“. Beigelegt war dem Kursbuch ein Poster mit verwaschenen Kontaktabzügen zu „Liebesspielen im Kinderzimmer“.

Pädosexuelle witterten ihre Chance

In solchen verkrampft „Befreiung!“ schreienden Wunschfantasien Erwachsener witterten Pädokriminelle eine Lizenz zur Grenzverletzung. Übergriffigkeit war ja unverkennbar auch Teil dieser Darstellungen. Und sahen Fachleute wie der Erlebnispädagoge Fritz Hartmut Paffrath in der „Sexualunterdrückung des Kindes die Voraussetzung für dessen Domestikation und Manipulierbarkeit“, schien sich Beutejägern der Zugriff auf den Körper des Kindes anzubieten. Dass sexualisierter Machtmissbrauch von Kindern mit und ohne solche Taktik begangen wird, wissen wir inzwischen, erst recht nach den erschütternden Affären um die Odenwaldschule wie katholische Internate.

Nichts davon war ausschlaggebend für die frühen, antiautoritären Kinderläden oder Projekte wie Seiferts Frankfurter Kinderschule. Für die dort arbeitenden Erwachsenen war der Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen der Kinder offenbar die weitaus größere Herausforderung als das Tolerieren kindlicher Sexualität. Die spielte, ließen Erwachsene die Kinder mit dem Erforschen ihrer Sinnlichkeit einfach in Frieden, keine dominierende Rolle. Kamen Kinder vom autoritären ins antiautoritäre Milieu, wollten sie vor allem testen, wie weit sie mit ihrer Aggression gehen konnten. Da lag der Hase im Pfeffer.

Die Aufbrüche von damals wirken bis heute fort

Für die New Yorker Historikerin Dagmar Herzog, Expertin zur Geschichte der deutschen Sexualmoral, zählen „Kinderläden und vergleichbare Experimente zu den größten konkreten Errungenschaften von APO und Studentenbewegung“. Tatsächlich hat sich enorm viel in der Landschaft der Kindheit verändert. In jedem Kindergarten finden sich heute Elemente und Spuren des reformerischen Aufbruchs von 1968, Mallandschaften, farbige Wände, Fingerfarben, freies Bewegen und Herumtoben.

Auch das Leitmotiv der Pädagogin Katia Saalfrank, wonach es zwischen Eltern und Kindern um „Beziehung statt Erziehung“ geht, verdankt sich den Aufbrüchen von damals. Dass die Gesellschaft von der Norm der Gewaltfreiheit vollends durchdrungen wird, muss Ziel nicht allein der Integrationspolitik, sondern aller Institutionen sein, die mit minderjährigen Schutzbefohlenen zu tun haben.

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