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Die Burschikose und der Leise. Andrea Nahles und Olaf Scholz.

© AFP

Andrea Nahles und Olaf Scholz: Welchen Weg nimmt die SPD mit diesen gegensätzlichen Persönlichkeiten?

Sie gilt als Parteilinke, er als „Rechter“. Sie ist laut, er besonnen. Andrea Nahles und Olaf Scholz – das ungleiche Paar, das die Sozialdemokraten aus der Krise führen soll.

Von Hans Monath

Womöglich trägt dieser Schlag dazu bei, Nahles den Weg zum SPD-Vorsitz zu bahnen. Rumms!, die Fraktionschefin haut mitten im Satz mit beiden Händen aufs Rednerpult, dass es wackelt. „Wir können mit den Konservativen nicht alles durchsetzen, deshalb sind wir doch eine eigenständige Partei“, ruft sie in den Saal. „Deswegen heißen wir doch SPD, und deshalb kämpfen wir auch morgen dafür, dass die Bürgerversicherung kommt!“

Ihre Stimme wird laut, der Zeigefinger sticht kerzengerade nach vorne, die Augen blitzen, als sie auf dem SPD-Sonderparteitag im Januar in Bonn die Gegner der großen Koalition in den eigenen Reihen frontal angeht. Bis zu diesem Moment haben Juso-Chef Kevin Kühnert und seine Mitstreiter das Treffen dominiert – zumindest, wenn es nach der Stärke des Beifalls geht. Denn Martin Schulz, damals noch Parteichef, hat nicht mehr die Kraft, die Delegierten zu überzeugen, liefert eine Rede ohne Schwung und Feuer ab.

Doch dann tritt Nahles ans Pult – und plötzlich sortiert sich das Feld neu. Denn die 47-Jährige nimmt sich Kühnert zur Brust, kämpft, mahnt und warnt. Nicht mit der Union weiterverhandeln nach erfolgreicher Sondierung, aber dafür in Neuwahlen hineinschlittern? „Soll ich euch sagen, was die Bürgerinnen und Bürger dann machen? Die zeigen uns den Vogel“, schreit sie.

Sechseinhalb Minuten dauert ihre Rede

Sechseinhalb Minuten dauert die Rede, in denen die frühere Juso-Chefin noch einmal mit der Faust und zwei weitere Male mit ihrem Manuskript auf das Pult haut. Jeder spürt: Sie bebt für ihre Sache. Sechseinhalb Minuten, die vielen SPD-Delegierten an diesem Tag klarmachen: Schulz kann nicht mehr führen, Nahles will führen.

Ein paar Meter links vom Pult sitzt Olaf Scholz am Vorstandstisch und applaudiert seiner Parteifreundin. Der stellvertretende Vorsitzende der Partei ist nicht gerade dafür bekannt, dass er sich mitreißen lässt von emotionalen Momenten – im Gegenteil. Mit stoischem Gesichtsausdruck rührt der Hamburger Bürgermeister die Hände.

Kaum jemand ahnt an diesem Tag: Vier Wochen später wird der SPD-Vorstand nach dem Rücktritt von Martin Schulz den Hamburger zum kommissarischen Vorsitzenden wählen und die Fraktionschefin zur künftigen Parteichefin ausrufen.

Es ist ein ungleiches Paar, das die SPD führen soll in der Stunde der Krise. In vieler Hinsicht scheint der 59-jährige Hanseat mit seinen gut sitzenden Anzügen ein Gegenentwurf zu sein zu der 47-jährigen Tochter eines Maurers aus der Eifel. Sie wirkt manchmal unkontrolliert, er immer um Selbstbeherrschung bemüht. Sie stürzt sich schnell in Auseinandersetzungen; er entwirft meist erst einmal einen Plan dafür, wie es weitergehen soll. Sie ist burschikos, spontan, rau, manchmal platt. Er achtet auf Etikette, spricht oft mit leiser Stimme, weil er überzeugt ist: Es lohnt sich für den anderen, ihm zuzuhören. Auch wenn man sich dafür zu ihm hinüberbeugen muss.

Sie war jahrelang eine Leitfigur des linken Parteiflügels. Er gilt in der Partei auch wegen seiner Vorliebe für Wirtschaftspolitik und seiner klaren Ansagen auf dem Feld der inneren Sicherheit, etwa zu Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber, als „Rechter“. In Hamburg nennen sie ihn „König Olaf“. Er war als Generalsekretär der wichtigste Prätorianer des Reformkanzlers Gerhard Schröder, sie dessen lauteste und mächtigste Gegnerin in der Partei.

Zwei Menschen, die so unterschiedlich scheinen – wie sollen die nun zusammenarbeiten, wenn der Mitgliederentscheid am heutigen Sonntag den Weg freimacht für die Neuauflage der großen Koalition? Auf den Regionalkonferenzen haben beide versucht, hinter verschlossenen Türen die Basis von den Vorteilen des Koalitionsvertrages zu überzeugen, tourten durch die Republik, nahmen sich Zeit, in Gruppengesprächen an großen Tischen auf Argumente einzugehen, Bedenken aus dem Weg zu räumen. Sozialdemokraten, die dabei waren, sagen, dass sie die Genossen beeindruckten.

Tatsächlich arbeiten die designierte Parteichefin und der kommissarische Vorsitzende schon seit Jahren eng zusammen. Mit niemandem außer seiner Frau Britta Ernst, der Bildungsministerin in Brandenburg, tausche sich Scholz enger aus, telefoniere noch spät in der Nacht länger als mit Nahles, heißt es. Dabei gehe es um mehr als nur um ein politisches Zweckbündnis. „Sie sind wirklich befreundet, aber sie zelebrieren ihre Freundschaft nicht öffentlich“, sagt einer, der beide seit Langem kennt.

Schätzen gelernt haben sie sich 1998, als sie als neue Bundestagsabgeordnete in den Ausschuss für Arbeit und Soziales einzogen. Beide hätten zu den wenigen Fachpolitikern gehört, die alle Unterlagen durcharbeiteten und dann Bescheid wussten, heißt es. Die „Sopos“, wie die Sozialpolitiker bei den Genossen genannt werden, sind ohnehin eine verschworene Gemeinschaft.

"Abrissbirne des Sozialstaats"

Bei der Bundestagswahl 2002 verlor Nahles ihr Mandat, kam erst drei Jahre später zurück ins Parlament. Scholz wurde kurz nach der Wahl Schröders Generalsekretär, verteidigte mit gestanzten Formulierungen („Scholzomat“) dessen im März 2003 verkündete Agenda-Politik. Die Parteilinke Nahles aber führte bald die Kritiker an, beschimpfte den Kanzler als „Abrissbirne des Sozialstaats“.

Im vergangenen Jahr fiel Beobachtern auf, dass es im Ringen der Parteispitze mit ihrem angeschlagenen Chef Martin Schulz gemeinsame Interessen der beiden gab. Der Hamburger gab nach der Bundestagswahl vieldeutige Interviews, veröffentlichte messerscharfe Analysen zur Schwäche der SPD, die ein Schlaglicht auf den Umstand warfen, dass der Mann aus Würselen keinen Plan hatte für die Zukunft seiner gebeutelten Partei.

Nahles hielt derweil als neugewählte Fraktionschefin engen Kontakt zum Parteivorsitzenden, der ursprünglich auch noch ihre Aufgabe hatte übernehmen wollen. Auch im Hintergrund verbreitete sie keine Kritik an Martin Schulz, dessen Fehlentscheidungen sich häuften. Die Politikerin wusste um ihr „Königsmörder-Trauma“: Als Juso-Chefin hatte sie 1995 geholfen, Rudolf Scharping zu stürzen und Oskar Lafontaine zu inthronisieren.

Zehn Jahre später bewarb sie sich gegen den Willen des damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering um den Posten der Generalsekretärin – und provozierte damit dessen Rücktritt. Die SPD hätte es ihr wohl nicht verziehen, wenn sie am Stuhl des ehemaligen Parteilieblings Schulz gesägt hätte – und sie hätte sich den Weg zum Parteivorsitz verbaut. Dann stolperte der frühere Hoffnungsträger über den Versuch, sich gegen seinen früheren Schwur das Außenministerium zu sichern.

Angegriffen hatte sie Martin Schulz nicht – aber ihn in Interviews auch kaum in Schutz genommen gegen den Versuch aus Hamburg, ihn mürbe zu machen. Nun profitieren beide: Scholz, der seit Jahren bei Wahlen zum Parteivize mit sehr schlechten Ergebnissen gestraft wird, führt die Partei kommissarisch. Sie selbst kann aufsteigen, kann im Kampf um den Parteivorsitz die stille Rivalin Manuela Schwesig überholen. Doch alles steht unter der Voraussetzung, dass die Mitglieder Ja zur großen Koalition sagen, wenn die Briefe heute ausgezählt sind.

Womöglich wissen die Fraktionschefin und der Bürgermeister aus Hamburg, auch um ihre gegenseitigen Schwächen. Manchmal entgleitet Nahles die Kontrolle, das kann dann schnell peinlich werden: Da singt sie am Rednerpult im Bundestag schrecklich unmusikalisch das Pipi-Langstrumpf-Lied („Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt“), droht der Union auf grobe Weise nach ihrem Abschied aus dem Kabinett („Ab morgen kriegen sie in die Fresse“), oder kündigt auf dem Parteitag im Dezember harte Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU mit den Worten an: „Das wird ganz schön teuer, bätschi!“

„Bätschi“ – ein solcher Lapsus würde dem Meister der Selbstkontrolle nicht unterlaufen, den Kritiker in seiner Partei als „Technokraten“ schmähen. Der wirkt manchmal sogar bei Talkshow- Auftritten, als betrachte er das Geschehen um ihn herum mit dem kühlen Interesse eines Insektenforschers. Er schürzt dann die Lippen, die Mundwinkel gehen nach unten, die Augen kneift er zu, wobei das linke oft noch schmaler wird als das rechte.

Aber auch der Mann, der in Hamburg schon viele Wahlen gewonnen hat, macht Fehler. Im vergangenen Sommer schien seine Karriere schon fast beendet: Übernächtigt, mit fahler Haut und wässrigen Augen stand Hamburgs Erster Bürgermeister damals vor den Kameras und versuchte nach den gewalttätigen Ausschreitungen rund um den G-20-Gipfel zu erklären, was schwer zu erklären war. Trotz dramatischer Warnungen von Experten hatte er verkündet: „Seien Sie unbesorgt: Wir können die Sicherheit garantieren.“ Doch als seine Stadt dann brannte, saß Scholz gemeinsam mit den Staatsgästen in der Elbphilharmonie und hörte Musik.

Womöglich stehen sich Scholz und Nahles politisch näher, als das auf den ersten Blick scheint. Auch Skeptiker in der Partei leugnen nicht, dass die einstige Galionsfigur der Linken in der SPD während ihrer viel gelobten Jahre im Arbeitsministerium hart an ihrem Image gearbeitet hat und in die Mitte rückte. Kaum ein anderer Sozialdemokrat sei in der Partei so breit vernetzt. Doch am Ende, wenn es um die Machtfrage geht, müsse sie immer auf die Stimmen der Parteilinken bauen, könne die SPD kaum wieder in die Mitte führen, warnen ihre Kritiker.

Sein sozialdemokratischer Glühkern

Damit soll Olaf Scholz zurechtkommen? Vielleicht hat man den sozialdemokratischen Glühkern des Politikers zu leicht übersehen in den Jahren, in denen er sich zum Hanseaten („Wir in Hamburg“), Ministerpräsidenten, Weltdeuter formte. Manchmal bricht der dann doch auf. Etwa als der Meister der Sachlichkeit sich während der Koalitionsverhandlungen darüber aufregte, dass die Unionsvertreter der SPD beim Kampf um bezahlbaren Wohnraum keinen Millimeter weit entgegenkommen wollten. „Das sind genau die Leute, deretwegen wir in die SPD eingetreten sind“, schimpfte er im Kreis der Genossen.

Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass beide, Scholz und Nahles, sozialisiert wurden durch jahrelange Arbeit bei den Jusos – sie als Chefin, er als Vizechef. Bilder von damals zeigen ihn mit langer, sehr lockiger Mähne. Von „Tribalismus“ spricht in diesem Zusammenhang einer, der der SPD seit Jahren dient. Seine These: Noch heute habe keiner der Juso-Kämpfer von damals vergessen, welchem Stamm oder Flügel jemand angehört hat. Scholz, zwölf Jahre älter als Nahles, war beim marxistischen Stamokap-Flügel. Sie legte damals Wert darauf, keinem der Flügel der Jusos anzugehören, bildete also einen eigenen Stamm. Auch viele Mitarbeiter der beiden kennen sich noch aus der Zeit beim SPD-Nachwuchsverband.

Kann es sein, dass Olaf Scholz viel sozialdemokratischer denkt, als seine skeptische Partei ihm das zutraut? Bevor er Generalsekretär wurde, war er Mitglied der Parlamentarischen Linken (PL). Und die Orientierung am Leitbegriff Gerechtigkeit prägt sein Buch „Hoffnungsland“, in dem er im vergangenen Jahr seine Schlussfolgerungen aus dem gesellschaftlichen Umbruch zog. Wer es liest, könnte auf die Idee kommen, Scholz einen progressiven Existenzialisten zu nennen.

Denn er glaubt unbedingt an eine bessere Zukunft, aber die kommt seiner Ansicht nach nicht von allein, sondern nur, wenn Menschen die richtigen Entscheidungen treffen. „Nichts ist vorherbestimmt, sondern wir sind in der Lage, in jedem Moment den Lauf der Geschichte zu beeinflussen“, schreibt er darin. „Dafür müssen wir aber den Mut aufbringen, zu handeln, statt uns von den Ereignissen treiben zu lassen.“

Klappt es mit dem Ja zur großen Koalition, können beide aufsteigen: Nahles will mit den Chefpositionen in Fraktion und Partei ein neues strategisches Zentrum der SPD bilden, ungebunden durch Kabinettsdisziplin. Scholz, der in den vergangenen Jahren für seine Partei alle komplizierten Finanzfragen verhandelte, hat die Aussicht, als Finanzminister und Vizekanzler Einfluss und neue Popularität zu gewinnen.

Wie steht es dann um die Konkurrenz der beiden? Die Macht oder die Aussicht auf Macht hat schon viele Freundschaften beschädigt, gerade in der SPD. „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ gab Nahles in ihrer Abizeitung als Berufswunsch an. Den Ehrgeiz von Scholz, sagen Menschen, die ihn gut kennen, dürfe man nie unterschätzen. Es ist keinesfalls abschätzig gemeint.

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