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Angela Merkel reichen die von Scholz auf den Weg gebrachten Corona-Maßnahmen nicht.

© imago images/Future Image

„Lage, die alles übertreffen wird“: Angela Merkel fordert Corona-Notbremse

Olaf Scholz glaubt, die Ampel-Maßnahmen reichen. Angela Merkel wählt eine CDU-Schalte, um ihm zu signalisieren: Ganz sicher nicht. Droht ein größerer Lockdown?

Olaf Scholz ist in Sachen Corona und der von den Ampel-Parteien beschlossenen Maßnahmen ein Optimist. Im September sagte er in der ARD-Wahlarena: „Corona ist ja bald vorbei.“ Im Beisein der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die die neuen Maßnahmen für unzureichend hält, sagte der SPD-Politiker nach dem jüngsten Bund-Länder-Gipfel, es gebe jetzt einen so großen Katalog von Maßnahmen, die möglich seien.

„Das wird eine ganz große Veränderung mit sich bringen. Das wird auch noch in den nächsten Tagen Ihre Berichterstattung sehr prägen, wenn ich das einmal vorhersagen darf“, sagte er bei der Pressekonferenz.

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Nur prägt das Paket die Debatte anders als von Scholz gewünscht. Erstmals droht in der Pandemie genau das, was immer vermieden werden sollte, die Überlastung des Gesundheitssystems, mit Triage, in Sachsen womöglich mit dramatischen Bildern wie im Frühjahr 2020 im italienischen Bergamo.

Bis Weihnachten könnten tausende Intensivbetten fehlen, es droht ein trauriges Weihnachtsfest. Bisher 99.124 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung meldet das Robert-Koch-Institut am Montag, noch diese Woche könnte die Schwelle von 100.000 Toten in Deutschland überschritten werden.

Hinzu kommen erboste Bürger, die sich an Maßnahmen gehalten und sich geimpft haben, wütende Händler, Hoteliers, Gastronomen und Weihnachtsmarktbetreiber etwa in Sachsen.

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Und während Scholz mit seiner SPD, den Grünen und der FDP an den letzten Details des Ampel-Koalitionsvertrags feilt, verliert Merkel die Geduld. Zugeschaltet aus dem Kanzleramt sagt sie in der Vorstandssitzung der CDU nach Angaben von Teilnehmern: „Wir haben eine hoch dramatische Situation, was jetzt gilt, ist nicht ausreichend“.

Will heißen: Es muss doch noch einmal über rasche Maßnahmen bis hin zu größeren Lockdowns gesprochen werden, das Beispiel Österreich lässt grüßen.

Und dann folgt laut Teilnehmern ein Satz für die Geschichtsbücher: "Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten."

Leider hat Merkel mit ihren Prognosen in der Pandemie fast immer richtig gelegen. Sie spielt den Ball in das Feld von Scholz, sie war auch für eine Bund-Länder-Runde schon vor über zwei Wochen.

Es gebe eine Verdoppelung der Fallzahlen alle 12 Tage, mahnt Merkel. Das gelte natürlich auch für Intensivbetten. Man müsse den exponentiellen Anstieg schnell stoppen, man komme an die Grenze der Handlungsfähigkeit, sagte Merkel. Sie habe den Eindruck, dass viele Menschen sich nicht dem Ernst der Lage bewusst seien. Impfen sei wichtig und richtig. „Aber impfen hilft nicht, jetzt die Entwicklung zu stoppen.“

Das gelte nur langfristig, eben auch um weitere Wellen zu verhindern.  Intensivmediziner würden von einer hochdramatischen Situation sprechen. 2G werde auch jetzt nicht mehr ausreichen, betont Merkel.

Reicht der Instrumentenkasten der Ampel?

Und sie weist auf das große Problem hin, der Instrumentenkasten im reformierten Infektionsschutzgesetz ist verringert und verändert worden. Zwar gibt es zusätzlich nun 3G-Pflichten am Arbeitsplatz, auch Bus und Bahn dürfen nur noch mit Impf- oder Genesenen-Nachweis oder mit einem negativen Test benutzt werden. Aber regionale Lockdowns, wie sie Sachsen und Bayern verkündet haben, dürfen nur noch bis zum 24. November – also diesen Mittwoch - verhängt werden und müssen bis 15. Dezember enden. Dieser Übergangspassus war als Zugeständnis an die Union noch in das Gesetz eingefügt worden.

Aber egal wie hoch die Inzidenz dann ist und wie voll die Intensivstationen sind: Gemäß des Gesetzes und des Auslaufens der epidemischen Notlage nationaler Tragweite müssten dann auch dort ab spätestens Mitte Dezember Clubs, Bars, Kneipen und Restaurants ohne Sperrstunde wieder öffnen – denn deren Betriebseinschränkung wird den Ländern mit dem neuen Infektionsschutzgesetz untersagt, es setzt vor allem auf 2G (Zugang nur für Geimpfte und Genesene)- und 2G-Plus (Zusätzlich mit Test)-Regelungen, um Geimpfte nicht in ihren Rechten einzuschränken.

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Das enge Lockdown-Korsett - Entscheidung nur bis Mittwoch möglich

Die Länder müssten bis 24.11. nun Maßnahmen beschließen, die dann wirken müssten, sagt Merkel im CDU-Bundesvorstand. Danach könne man nicht mehr flächendeckend Maßnahmen ergreifen.

Heißt letztlich, und das ist vielleicht der Hintergrund von Merkels drastischer Intervention, wissend, dass die Worte nach draußen dringen: Es bleiben nur noch wenige Tage, um zu entscheiden, auch über gemeinsame, bundesweite Lockdownmaßnahmen. Denn erst das gerade von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz wieder zu ändern, würde zu lange dauern.

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Die Frage ist: was macht Scholz?

Das alles ist eine Hypothek für Scholz, er will eigentlich am Dienstag den Ampel-Koalitionsvertrag als großes Aufbruchssignal präsentieren, aber die Corona-Realität überrollt gerade auch SPD, Grüne und FDP. Er hat sich rar gemacht zuletzt, doch die Lage scheint so ernst, dass rasch gegengesteuert werden müsste. Das neue Infektionsschutzgesetz soll nach bisheriger Planung aber erst bei der wahrscheinlich ersten Bund-Länder-Runde mit dem möglichen neuen Kanzler Scholz am 9. Dezember auf seine Wirksamkeit hin überprüft werden. Auch eine debattierte Impfpflicht ist etwas, dass erst mittelfristig wirkt, aber nicht jetzt als Notbremse.

FDP attackiert Merkel: "Trauriges Versagen"

FDP-Fraktionsvize Michael Theurer wirft Merkel und den Union-Ministerpräsidenten vor, selbst viel zu lange viel zu wenig getan zu haben. "Niemand hat die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung daran gehindert, in den letzten zwei Monaten die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der vierten Welle zu treffen", sagte Theurer dem Tagesspiegel.

"Kraft- und tatenlos hat Bundeskanzlerin Merkel dabei zugesehen. Auf Veranlassung der Bundesregierung wurden die Testprogramme massiv zurückgefahren, während die Impfkampagne noch immer bei weitem nicht niederschwellig genug ist."

Jetzt nach einer neuen Notbremse zu rufen, sei "ein trauriges Eingeständnis eigenen Versagens."

Alle Kräfte müssten jetzt darauf fokussiert werden, die erhöhte Impfbereitschaft in Impfungen umzusetzen, bestehende Geimpfte zu boostern und möglichst die gesamte Bevölkerung zu testen. "Stundenlange Schlangen bei Impfaktionen etwa im Alexa in Berlin oder an der Elbphilharmonie in Hamburg sind ein Zeugnis einer Impfkampagne, die noch jede Menge Luft nach oben hat."

Blick auf eine Intensivstation in Leipzig, Sachsen ist besonders von der Corona-Welle betroffen.
Blick auf eine Intensivstation in Leipzig, Sachsen ist besonders von der Corona-Welle betroffen.

© Jan Woitas/dpa

Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen hält es dagegen für möglich, dass die Corona-Maßnahmen nachgeschärft werden müssen. Er sei "sehr besorgt" über die Entwicklung", sagt er in der ARD. Es könne durchaus sein, dass man bald sagen müsse, „es reicht nicht und wir werden dann weiterreichende Maßnahmen beschließen müssen“.

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In Sachsen droht Triage

In Sachsen könnte nach Auskunft des Präsidenten der Landesärztekammer schon in den nächsten Tagen eine Überlastung der Intensivstationen drohen. Es sei schon bald damit zu rechnen, dass in bestimmten Regionen des Bundeslandes zwei Patienten um ein Bett konkurrieren müssten, sagte Erik Bodendieck am Montag im Deutschlandfunk.

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Die Patienten könnten auch nicht - mangels dortiger Kapazitäten - einfach in andere Kliniken verlegt werden. Dann drohe eine Triage-Situation: Wer dann eine bessere Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung habe, werde bevorzugt. Ungeimpfte hätten dabei die schlechteren Überlebenschancen.

Notfallmediziner warnen vor bundesweiter Überlastung

Als "sehr besorgniserregend" bezeichnet der Präsident der Deutschen Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, die aktuelle Situation. "Die Pandemie ist nicht unter Kontrolle", sagte er. Allein in der vergangenen Woche seien 1887 neue Covid-Patienten auf Deutschlands Intensiv-Stationen aufgenommen worden. Die Entwicklung in den Krankenhäusern sei vergleichbar mit der vor einem Jahr - nur, dass wegen des Pflegemangels inzwischen 4000 Intensivbetten weniger zur Verfügung stehen würden.

Die Divi erfasste zuletzt bundesweit 3.675 Corona-Patientinnen und -Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, wovon 51 Prozent invasiv beatmet werden - mit stark steigender Tendenz. Steffen Weber-Carstens, Leiter des DIVI-Intensivregisters und Teil der Charité-Klinikleitung, sagte, in Berlin gebe es nur noch 91 belegbare Intensivbetten. Aktuell würden aber 25 Covid-Neuaufnahmen täglich erfolgen. "Es ist sehr, sehr eng geworden", sagte Weber-Carstens.

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