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Bundestag

© dpa

Angela Merkel: Ins Amt mit Hürden

Die Kanzlerin ist wiedergewählt, sie ist stärker als je zuvor. Und trotzdem sagt einer: "Die nächsten vier Jahre werden deutlich schwerer als die letzten vier." Nicht nur, weil neun Abgeordnete aus den eigenen Reihen ihre Zustimmung verweigert haben.

Von Robert Birnbaum

Joachim Sauer, Ehemann, ist wieder nicht gekommen. Horst Kasner, Vater, sitzt auf der Ehrentribüne in der ersten Reihe, mag aber nichts sagen. Nur die kleine, vom Alter schon etwas gebeugte Mutter gibt einen kurzen Kommentar. „Es ist, wie es ist“, sagt Herlind Kasner. Wäre nicht unten im Plenarsaal die ganze Zeit über eine sehr entspannte Angela Merkel umhergestrichen, könnte man glatt meinen, dies wäre hier ein eher unerfreulicher Anlass. Aber vielleicht passt das Bild ja ganz gut zum Beginn einer neuen Regierung, von der einer, der ab heute darin eine zentrale Rolle spielen wird, schon im Voraus sagt: „Die nächsten vier Jahre werden deutlich schwerer als die letzten vier.“

Am Mittwochmorgen füllt sich langsam der Saal der Unionsfraktion. Für neun Uhr ist der Zählappell angesetzt. „War’n bisschen lang gestern“, ruft ein leicht zerknittert anzuschauender Abgeordneter einem Kollegen zu. Zählappelle sind nicht so überflüssig, wie man meinen sollte. Der Neu-Parlamentarier ist unvergessen, der 1994 fast verschlafen hätte, Helmut Kohl zu wählen, und es fortan in der Politik zu nichts mehr brachte. Dieses schwarz-gelbe Bündnis hat eine viel komfortablere Mehrheit als Kohls letztes, 20 Stimmen mehr als notwendig zur Kanzlerinnenwahl. Aber wer am ersten Schultag unentschuldigt fehlen würde, fiele ja auch unangenehm auf. Also kommen sie. Dunkler Anzug dominiert, Heinz Riesenhubers Fliege ist heute schwarz-rot-gold gestreift, „dem Anlass angemessen“, sagt er. Fraktionschef Volker Kauder und andere tragen die Bundesflagge als Anstecker am Revers. Draußen im Eingangsflur liegen die Namenslisten aus. Als Kauder zur Klingel greift und die Tür geschlossen wird, schlüpft eine Abgeordnete schnell hinaus und setzt ihre Unterschrift hinter den Namen. Bei Kauder hat jemand einen Haken gemacht. Bei Dr. Angela Merkel steht nichts. Aber die ist sowieso da. So wie alle anderen 239 Parlamentarier von CDU und CSU. Einen Stock tiefer im Reichstag bei der FDP das gleiche Bild: 93 Abgeordnete, vollzählig. Man muss sich das merken, weil es später noch wichtig ist. Dass sich bei der Opposition acht Abgeordnete als verhindert gemeldet haben, ist hingegen egal.

Opposition ist sowieso ziemlich egal an diesem Tag. Ab halb zehn sammelt sich das Parlament allmählich im Plenarsaal. Selbst wer nicht wüsste, dass die Schwarzen und die Gelben in der rechten Hälfte sitzen und die anderen vom Bundesadler aus gesehen links, könnte doch sofort erkennen, wer die Sieger sind. Die zur Linken sitzen und stehen halt so rum. Die anderen haben reichlich zu besprechen. Kauder hockt sich schon mal kurz mit der FDP-Kollegin Birgit Homburger zusammen. Rainer Brüderle weist zwar formenstreng jeden Glückwunsch zurück – erst in vier Stunden ist er Bundeswirtschaftsminister –, telefoniert aber schon ministrabel. Zwischendurch winkt er seiner Frau oben auf der Zuschauertribüne zu. Thomas de Maizière lässt sich dort von seiner Frau den Schlips noch einmal richten. Ursula von der Leyens Mann macht ein Foto von fünf seiner sieben Kinder plus Philipp Rösler im Hintergrund. Danach macht Philipp Rösler ein Foto von Mann mit Kindern ohne Hintergrund. Rösler ist in diesem Moment ein politisches Neutrum – seit gestern nicht mehr Wirtschaftsminister in Niedersachsen, noch nicht Gesundheitsminister in Berlin. Da bleibt als Platz im Protokoll nur die Tribüne.

Um fünf vor zehn kommt Merkel in den Plenarsaal. Es fällt fast nicht auf. Nachtblaues Kostüm, weißes T-Shirt, eine sachlich-schlichte Kette mit Gold und Schwarz und rötlichem Wurzelholz, lächelnd, aber unauffällig. Punkt zehn eröffnet Bundestagspräsident Norbert Lammert die Sitzung. Kurze Formalien, der Bundespräsident schlägt zur Wahl als Kanzlerin Dr. Angela Merkel vor. „Eine besondere Überraschung scheint dieser Vorschlag nicht auszulösen“, witzelt Lammert. „Doch!“ ruft trotzig jemand aus den Oppositionsreihen. Die folgende Stunde verläuft denkbar unspektakulär. Namen um Namen wird vom Tagungspräsidium herab verlesen, von Aigner bis Zypries. Die Aufgerufenen gehen in die Wahlkabinen rechts und links im Saal, füllen den Stimmzettel aus und reihen sich in die Schlange vor den Plexiglas-Urnen ein. Eine gute halbe Stunde dauert das; als Merkel ihren Zettel einwirft, klicken alle Kameras. Die Auszählung wird noch einmal gute 20 Minuten dauern.

Genug Zeit also, sich Gedanken zu machen, wie das wohl werden wird mit dieser neuen, dieser Wunschpartnerregierung. Vorläufig ist dazu festzuhalten: Während der Koalitionsverhandlungen haben sie sich wechselseitig Ideenlosigkeit hier und postoppositionellen Illusionismus vorgeworfen. Nach den Koalitionsverhandlungen haben die einen, insbesondere die Freien Demokraten, der Welt triumphierend mitgeteilt, dass sie jede einzelne ihrer Forderungen durchgesetzt hätten. Die anderen haben wissen lassen, dass das Papier auch von Koalitionsvereinbarungen sehr geduldig sein kann. Sie klangen gereizt dabei. Die Verstimmung hat viel mit dem wahlkampfschrillen Tonfall des neuen Partners zu tun. Der hält an. In der Reichstagslobby redet die FDP-Frau Homburger in eine Kamera hinein von „Aufbruch“ und „Impulsen“ und „dringend notwendig“ und krönt die Wortsalve mit dem triumphierenden Satz: „Das Wichtigste ist, dass es jemanden gibt, der diesen Aufbruch voranbringen will!“

Es hat übrigens in den Pausen im Plenarsaal nur wenige Gespräche über die unsichtbare Grenze hinweg gegeben, die die neue Mehrheit von der Opposition trennt. Aber Merkel ist kurz zur SPD gegangen, zu Frank-Walter Steinmeier und zu Franz Müntefering. Recht lange hat sie anschließend mit Jürgen Trittin, Volker Beck und Kerstin Müller geplaudert. Und zum Schluss haben die Grünen und die schwarze Kanzlerin gemeinsam ganz herzlich miteinander gelacht.

Die Uhr am Kopfende des Saals zeigt 10.52, als zwei Saaldienerinnen Blumensträuße hineintragen und sie hinter den ersten Bänken von Union und FDP verstauen. Eine Minute später kommt Hans-Joachim Fuchtel so unauffällig in den Saal spaziert, dass aber wirklich jeder den Zettel in seiner Hand sehen kann. Der Chef der Zählkommission sagt kurz etwas zu Merkel, geht dann weiter zu den Chefs der Oppositionsfraktionen. Merkel nickt. Sie ist gewählt. Aber als Lammert wenig später das Ergebnis verkündet, wissen auch alle anderen: Neun Abgeordnete aus den eigenen Reihen haben ihr die Stimme verweigert. „Manche denken nicht zu Ende“, wird sich de Maizière später ärgern. Andere CDU- Politiker rechnen eilig vor, dass kaum je ein Kanzler alle Stimmen bekommen habe. Die Opposition sieht das düsterer. „Das ist kein guter Start“, orakelt draußen Linken-Fraktionschef Gregor Gysi. Drinnen hat er trotzdem gratuliert, so wie Westerwelle, Steinmeier, einfach alle, Merkels künftiger Kanzleramtschef Ronald Pofalla sogar mit Wangenküssen. Während die Gratulantenschlange sich noch reiht, sind Steinmeier, Trittin und Renate Künast schon drei Stockwerke höher gefahren. Die Fraktionschefs von SPD und Grünen wollen erklärtermaßen keine „Koalition in der Opposition“. Aber gemeinsam empören wollen sie sich schon. Die Linke ist nicht gefragt worden. Steinmeier empört sich also, „dass die Bundeskanzlerin nach ihrer Wahl und Vereidigung ins Ausland fliegen wird und nicht dem deutschen Parlament Rede und Antwort steht, was Inhalt der zukünftigen Politik sein wird“. Das klingt kämpferisch. Aber Steinmeier wirkt abgekämpft. Vielleicht ist es einfach noch nicht lange genug her, dass er ganz genau gewusst hat, wie egal einer Regierung derlei Empörung sein kann.

Der neuen alten Kanzlerin ist sie heute mit Sicherheit völlig schnurz. Als Merkel zurückkommt von Bundespräsident Horst Köhler, der ihr die Urkunde übergeben hat, als sie den Eid abgelegt und geschworen hat, ihr Amt zum Wohl des deutschen Volkes zu versehen, „so wahr mir Gott helfe“, als sie sich danach ganz allein ganz vorne links auf die Regierungsbank setzt – da geht ein strahlendes, ein Mädchenlächeln über ihr Gesicht. Sie hat es geschafft, zum zweiten Mal. Sie ist jetzt stärker als je zuvor. Aber leichter wird es nicht. Köhler hat ihr, nachdem er dem ganzen Kabinett die Ernennungsurkunden überreichte, eben schnell eine komplette Agenda mit auf den Weg gegeben – eine neue Weltfinanzordnung, keine unrealistischen Hoffnung auf Wachstum, Schuldenabbau sowieso – und dazu den Satz: Dies sei eine Regierung, „die eng und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten verspricht“. Kein Versprecher. Merkel und Westerwelle sehen nicht so aus, als fänden sie den Scherz lustig. „Ich habe Respekt vor denen, die mich nicht wählen wollten“, sagt Merkel im ersten Fernsehinterview der neuen Amtszeit. „Wir verurteilen diese grausamen Terroranschläge auf das Schärfste“, sagt Westerwelle, als er zum ersten Mal vor eine Kamera tritt. „Bundesaußenminister“ steht in der Bildschirm-Unterzeile zu lesen. Es ist jetzt ernst.

Mitarbeit: Hans Monath

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