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Anschlag vom Breitscheidplatz: Die offenen Fragen im Fall Anis Amri

Hätte die Tat von Anis Amri verhindert werden können? Eine Übersicht über Fehler, Pannen, Versäumnisse - und das, was ein Untersuchungsausschuss im Bundestag jetzt klären muss.

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Ein Jahr nach dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz häufen sie sich wieder: Belege für Versäumnisse im Fall Anis Amri. Auch im Bundestag wird es nun aller Voraussicht nach einen Untersuchungsausschuss zu Amri geben. Die Grünen hatten das schon im Mai gefordert. Damals reagierten Union und SPD zurückhaltend. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, bezeichnete den Vorstoß der Grünen sogar als „peinlich“. Doch die immer wieder neuen Enthüllungen zum Fall Amri haben nun auch bei der Union die Erkenntnis reifen lassen, dass man an einem Untersuchungsausschuss im Bundestag nicht vorbeikommt.

Welche Hinweise gab es auf die terroristische Gesinnung Amris?

Bereits im Dezember 2015 wurde die Telekommunikationsüberwachung Amris veranlasst. Die Ermittler des Landeskriminalamts NRW konnten so auch seine Unterhaltungen über das verschlüsselte Chat-Programm Telegram mitlesen. Es zeigte sich, dass Amri mit mutmaßlichen IS-Mitgliedern in Libyen in Kontakt stand. In seinen Chats benutzte Amri das Codewort „Dougma“, also „Hochzeit“ – die Ermittler kamen zu dem Schluss, dass er sich für einen Selbstmordanschlag anbot. Auch ein V-Mann lieferte dem LKA Hinweise darauf, dass Amri einen Anschlag planen könnte. Zudem soll der marokkanische Nachrichtendienst dem Bundesnachrichtendienst (BND) zwei Mal Warnungen weitergeleitet haben, die Amris Bereitschaft betrafen, einen Terroranschlag durchzuführen.

Was ist im Terrorabwehrzentrum schiefgelaufen?

Nur theoretisch hat das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin, in dem Vertreter von 40 Sicherheitsbehörden Informationen austauschen, im Fall Amri funktioniert. Wie in zahllosen weiteren Verdachtsfällen zu islamistischem Terror auch. Möglicherweise war genau das, trotz der Erfolge in der Vergangenheit, nun das Problem. Amri entsprach nicht dem bislang dominierenden Typus des konsequenten, ideologisch gefestigten Dschihadisten. Er galt zwar als terroristischer Gefährder und „Foreign Fighter“, aber auch als labil. Weil er in Berlin mit Drogen dealte und selbst Kokain und Ecstasy nahm, weil er im September 2016 das Morgengebet ausließ und die bedeutendste religiöse Feier für Muslime, das islamische Opferfest, weitgehend ignorierte. Mindestens zehn Mal wurde im GTAZ über Amri gesprochen.

Der Tenor lautete: Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse sei kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar. Die Behörden begriffen nicht, auch der Typus „lumpenproletarischer“ Dschihadist könnte so gefährlich sein, dass die Erkenntnisse energisches Handeln – bis hin zur Suche nach Haftgründen – zwingend notwendig machten. Zudem kritisieren Innenexperten, im GTAZ seien Zuständigkeiten hin- und hergeschoben worden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will nun gesetzlich festschreiben, dass die im GTAZ verabredeten Maßnahmen verbindlich sind.

Wie wurde Amri in Berlin überwacht?

Am 18. Februar 2016 teilte das LKA NRW den Berliner Kollegen mit, der als Gefährder eingestufte Amri sei auf dem Weg nach Berlin. Amri wurde in Berlin am Busbahnhof kontrolliert. Beamte entnahmen Fingerabdrücke und machten Lichtbilder von Amri. Amri kam wieder frei und wurde „präventivpolizeilich“ observiert. Die Beamten stellten fest, dass Amri in Moabit die Fussilet-Moschee aufsuchte, einen Treffpunkt gewaltorientierter Salafisten. Am 19. Februar 2016 installierte das Berliner LKA nahe der Moschee eine Kamera, um Amri verdeckt zu beobachten, wenn er das Gebäude betritt. In den folgenden Wochen wurde Amri observiert, die Kamera filmte mehrmals seine Ankunft an der Moschee.

Im März 2016 stufte auch das LKA Berlin den Tunesier als Gefährder ein. Am 4. April erließ das Amtsgericht Tiergarten auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Beschlüsse zur langfristigen Observation von Amri. Am 15. Juni stellte das LKA Berlin die Observation aber ein, da keine „gefahren- oder verdachtserhärtenden Anhaltspunkte“ festgestellt wurden. Dabei hätte Amri bis zum 21. Oktober observiert werden können.

In seinem Abschlussbericht schreibt der Sonderermittler des Berliner Senats im Fall Amri, Bruno Jost, die Observation sei eingestellt worden, ohne dass die Generalstaatsanwaltschaft davon erfuhr. Die Observation habe sich zudem auf die Wochentage Montag bis Freitag beschränkt und nur mehrere Stunden gedauert. Und Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung seien nicht genutzt worden. Der Sonderermittler kritisiert auch, die Auswertung des am 18. Februar sichergestellten Handys sei „fehlerhaft und unzureichend“ gewesen. Das betrifft allerdings auch das LKA NRW. Auf dem Handy fanden sich Bilder, auf denen Amri mit Waffen zu sehen ist, darunter mit einer Pistole. Recherchen des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“ ergaben, dass die Behörden Amris Terrorpläne hätten erkennen können, wäre er weiter observiert worden. So kundschaftete er mögliche Anschlagsorte aus und schlich 26 Mal um geparkte Lastwagen, wie Daten aus seinem Mobiltelefon gezeigt hätten.

Welche Chancen wurden vergeben, Amri abzuschieben?

In der Gesamtschau wurde nach Ansicht von Jost zumindest die Chance vertan, die Hinweise auf Amris gewerbsmäßigen Drogenhandel zu nutzen und ihn bei der Dealerei zu erwischen. Im Herbst 2016 hätte Amri in Berlin festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt werden können. Dazu passt, dass im LKA nach dem Anschlag Akten manipuliert wurden, um das Ausmaß von Amris Rauschgifthandel zu vertuschen. Zudem blieb laut Jost ein wichtiges BKA-Dokument ungenutzt, das zur Abschiebung Amris hätte führen können. Nötig waren sogenannte Passersatzpapiere, um Amri in sein Heimatland Tunesien zurückführen zu können. Doch die Tunesier verlangten die Übersendung von Handflächenabdrücken. Der Ausländerbehörde war trotz Vernetzung im GTAZ unbekannt, dass diese im polizeilichen Informationssystem vorlagen.

Welche Rolle spielte ein V-Mann?

Das LKA NRW hatte seinen V-Mann „Murat“, intern als VP 01 registriert, auf den Hassprediger Abu Walaa und dessen Umfeld angesetzt. Abu Walaa war mutmaßlich der Statthalter des IS in Deutschland, im November 2016 wurden er und Komplizen festgenommen. Amri hatte mehrfach und offen engen Kontakt zu Abu Walaa und dessen Anhängern. VP 01 stand ebenfalls mit Amri in Verbindung und chauffierte ihn auch nach Berlin. Im März 2016 berichtete der Spitzel dem Landeskriminalamt NRW, Amri befürworte einen Selbstmordanschlag mit Sprengstoffgürtel.

Möglicherweise hat der türkischstämmige Spitzel mehr getan, als notwendig war. „Murat“ steht in Verdacht, die Clique um Abu Walaa zu Anschlägen animiert zu haben. Dabei soll auch von einem Angriff mit einem LKW die Rede gewesen sein. Abu Walaa und vier Männer aus seinem Dunstkreis müssen sich seit September vor dem Oberlandesgericht Celle verantworten.

Was muss ein  Untersuchungsausschuss im Bundestag klären?

Die Fraktionen sind uneins darüber, welchen Fokus ein Untersuchungsausschuss haben sollte. Die Union betont in ihrem Antragsentwurf, der dem Tagesspiegel vorliegt und von der SPD unterstützt wird, es müsse untersucht werden, welche Schlussfolgerungen für das deutsche Asylsystem und seinen Vollzug nötig seien. Auch solle geklärt werden, welche Rolle die Sicherheitsbehörden des Bundes in dem Fall spielten und wie Amri nach seiner Tat ins Ausland entkommen konnte. Der Antrag ist wesentlich allgemeiner gehalten als die Anträge von FDP, Grünen und Linken.

Der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz drängt darauf, zu klären, warum Bilal Ben Ammar, ein enger Freund von Amri, Anfang Februar 2017 plötzlich abgeschoben wurde. Ammar hatte wenige Stunden vor dem Anschlag mit Amri telefoniert und offenbar auch Monate zuvor den Breitscheidplatz ausgekundschaftet. Seit seiner Abschiebung ist Ammar in Tunesien untergetaucht – als Zeuge kann er nicht vernommen werden. „Das ist hanebüchen“, sagt Notz. Er fragt außerdem, warum ein „dringend alarmierender Hinweis der marokkanischen Sicherheitsbehörden im Sande verlief“. Außerdem wollen die Grünen klären, ob Amri deshalb nicht längerfristig festgenommen oder abgeschoben wurde, weil er als Informationsquelle aus der islamistischen Szene fungieren sollte. Für SPD-Innenexperte Burkhard Lischka ist eine Kernfrage, warum die Observierung Amris in Berlin vorzeitig eingestellt wurde.

Über den Untersuchungsausschuss wird voraussichtlich in der ersten Sitzungswoche 2018 beraten. Fraglich ist allerdings, ob sich die Fraktionen auf einen gemeinsamen Antrag einigen können oder ob zunächst alle Anträge einzeln eingebracht werden und man später im Geschäftsordnungsausschuss einen gemeinsamen Untersuchungsauftrag formuliert.

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