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Politik: Auch Türkei debattiert über Leitkultur Neubestimmung auf dem Weg in die EU

Istanbul - Wer die Bilder vom denkwürdigen Fußballspiel der Türkei gegen die Schweiz vor zwei Wochen in Istanbul noch im Kopf hat, wird die Türken kaum für ein Volk halten, das bezüglich seiner nationalen Identität tief verunsichert ist. Doch nun fördert eine von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan angestoßene Diskussion über das Verhältnis der Türken zu ihrem Staat so viele Ängste und Befürchtungen zutage, dass plötzlich die Frage im Raum steht: Was ist eigentlich ein Türke?

Istanbul - Wer die Bilder vom denkwürdigen Fußballspiel der Türkei gegen die Schweiz vor zwei Wochen in Istanbul noch im Kopf hat, wird die Türken kaum für ein Volk halten, das bezüglich seiner nationalen Identität tief verunsichert ist. Doch nun fördert eine von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan angestoßene Diskussion über das Verhältnis der Türken zu ihrem Staat so viele Ängste und Befürchtungen zutage, dass plötzlich die Frage im Raum steht: Was ist eigentlich ein Türke? Die türkische Version der Leitkultur-Debatte ist der Beginn einer schmerzhaften Neubestimmung – auf dem Weg in die EU muss sich die Türkei vom bisherigen, rigiden Staatsverständnis lösen.

Bei einem Besuch im türkischen Kurdengebiet sprach Erdogan vergangene Woche von einer „Ober-Identität“ aller türkischer Staatsbürger und den „Unter-Identitäten“ der verschiedenen Volksgruppen. Unter dieser „Ober-Identität“ könnten „Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen und Abchasen eins sein und zusammenleben“, sagte Erdogan. Der Premier versprach „Respekt“ vor den Minderheiten. Entscheidend sei nicht die ethnische Zugehörigkeit, sondern die „Staatsbürgerschaft der Verfassung“.

Der Oppositionsführer Deniz Baykal sieht in Erdogans Staatsverständnis den Zerfall der Republik am Horizont. Er und andere Kritiker Erdogans befürchten, dass die Beschränkung auf eine bloße „Ober-Identität“ für alle Türken so starke zentrifugale Kräfte freisetzen wird, dass die Türkei zerbrechen könnte. Sie fordern ein Festhalten an dem Grundsatz „Einheit vor Vielfalt“.

Als die moderne Türkei vor 82 Jahren auf den Trümmern des Vielvölkerstaates der Osmanen errichtet wurde, diente der türkische Nationalismus als Identitätsstifter für den neuen Staat. Die strenge Unterordnung aller ethnischen Unterschiede unter die Einheitsnation führte in den vergangenen Jahrzehnten mitunter dazu, dass diese Unterschiede völlig verneint wurden: Kurden wurden „Bergtürken“ genannt, der öffentliche Gebrauch ihrer Sprache war verboten.

Wenn Erdogan nun sagt, die ethnische Vielfalt sei ein „Reichtum“ der Türkei, wirkt das auf die Nationalisten deshalb wie eine Provokation, zumal auch die EU in diesem Bereich von Ankara weitere Reformschritte verlangt. Nur kurz nach Erdogans Identitäts-Rede sagte der EU-Botschafter in Ankara, der deutsche Diplomat Hansjörg Kretschmer, die Türkei müsse ihr Minderheitenverständnis modernisieren. Die von Erdogan entfachte Debatte könnte ein erster Beitrag dazu werden.

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