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Ciudad Mier wurde zur Geisterstadt, nachdem rivalisierende Kartelle die Bevölkerung vertrieben haben.

© Jared Moossy/Redux/Redux/laif

Politik: Auf der Flucht

Im Drogenkrieg in Mexiko geraten ganze Dörfer zwischen die Fronten. Fügt sich die Bevölkerung nicht dem Willen der „Narcos“, eskaliert die Gewalt.

Santa Rosa Treinta – ein verschlafenes Dorf in Zentralmexiko, 16 000 Einwohner, die weit verstreut wohnen, inmitten wogender Zuckerrohrfelder. Keine zwei Stunden Autofahrt südlich von Mexiko-Stadt fühlt man sich hier versetzt in vorrevolutionäre Zeiten: Der kopfsteingepflasterte Dorfplatz vor der Kirche ist der wichtigste Treffpunkt, direkt dahinter liegt die alte Hacienda, die einst das wirtschaftliche Leben bestimmte und nun das Feriendomizil einer reichen Familie ist. Die meisten Menschen hier leben von der Landwirtschaft, von kleinen Läden und den Wochenendtouristen aus der Hauptstadt, die das milde Klima des Bundesstaates Morelos lieben. Doch vor einem Jahr fand die Idylle ein jähes Ende.

Cristina Velarde (Name geändert) erinnert sich genau an den Tag, als ihr Nachbar erschossen wurde. An der Straßenecke, keine 100 Meter von ihrem Hauseingang entfernt. Er war Polizist, Velarde kannte ihn von klein auf, er hatte mit ihrer Enkelin gespielt. Jetzt lag er tot in einer Blutlache, und keiner im Dorf wusste genau warum. Kurze Zeit nach dem Mord wurde ein Gerücht laut. Der neue Bürgermeister sei mit der Drogenmafia verbandelt. Etwa einen Monat später hörte Cristina Velarde von draußen eine Durchsage per Megafon: Die Bürger sollten in den Nächten nach 21 Uhr nicht mehr aus dem Haus gehen. Es blieb ungeklärt, wer für die Durchsage verantwortlich war. Die Dorfpolizei und der Bürgermeister stellten sich unwissend. Aber die 72-jährige Cristina Velarde, die früher politisch aktiv war, wollte sich nicht geschlagen geben. Also fragte sie den Pfarrer. Aber auch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. An wen kann man sich wenden, in diesem Krieg ohne klare Fronten? Wenn man nie weiß, wer mit wem im Boot sitzt?

Velarde schloss sich, wie alle anderen im Dorf, am nächsten Abend zu Hause ein und verrammelte die Türen. Kurz vor Mitternacht hörte sie die Motoren. Drei dunkle Pick-ups fuhren direkt an ihrem Haus vorbei. Und verschwanden in der Finsternis. Ein Killerkommando auf der Fahrt zum Einsatz? Ein Drogentransport? Wenige Wochen danach begannen die Entführungen. Taxifahrer, Eigentümer von Tante-Emma-Läden, Landwirte – niemand konnte sich mehr sicher fühlen. „Jeden dritten Tag wurde jemand verschleppt “, sagt Cristina Velarde. Manchmal gab es auch Tote, neben den Leichen lagen Zettel mit Botschaften wie „Das geschieht mit Petzern“. Wie viele es waren, darüber schweigt die Regierung, die Zahl der Morde sei „sicherheitspolitisch sensibel“.

Santa Rosa Treinta ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel dafür, wie sich die Drogenmafia in Mexiko Gebiete unterwirft. Fügt sich die Bevölkerung nicht, eskaliert die Gewalt. So wie im Valle de Juárez an der Grenze zu den USA, einst Hochburg des Juárez-Kartells. Als das konkurrierende Sinaloa-Kartell dort einfiel, wurde kurzer Prozess gemacht mit jedem, der in Verdacht stand, der gegnerischen Seite gedient zu haben – oder der den Mund aufmachte und die Gewalt denunzierte.

So wie in der Grenzstadt Ciudad Mier im Nordosten Mexikos, ein anderer Umschlagplatz für den Drogenhandel, der tagelang ins Kreuzfeuer genommen wurde von zwei verfeindeten Syndikaten, den „Zetas“ und dem Golfkartell, einst Verbündete. Die Regierung schickte Soldaten und Bundespolizisten, die sich mit den Gangstern ein Feuergefecht lieferten. Danach lag die Polizeistation in Schutt und Asche und in der Stadt sah es aus wie nach einem Krieg. Und die schockierte Bevölkerung floh in die nächstgrößere Stadt Miguel Alemán. Ein Exodus von mehr als 500 Familien, die sich der Rache der Verbrecher schutzlos ausgeliefert sahen. Insgesamt sind in Mexiko nach Angaben der UN rund 160 000 Menschen vor der Gewalt geflohen. Kartelle wie die „Zetas“ sind weit verzweigte Imperien, die nicht nur mit Drogen handeln, sondern auch mit Waffen, mit Menschen, und die Schutz- und Lösegelder erpressen.

Anders als das martialische Militäraufgebot von Präsident Felipe Calderón vermuten lässt, ist der mexikanische Staat ein Potemkin’sches Dorf. Besonders auf dem Land, wo das Organisierte Verbrechen und die Politik oft vollkommen miteinander verschmolzen sind. Wo gegen Bürgermeister, Gouverneure und Abgeordnete wegen Geldwäsche oder Verbindungen zur Drogenmafia ermittelt wird. Ein Drittel der Politiker stünden im Sold der Kartelle, sagt eine, die es wissen muss: die inhaftierte Drogenkönigin Sandra Avila Beltrán. Aber auch Polizisten, Militärs, Richter und Staatsanwälte verdienen am Drogengeschäft.

Die Institutionen sind bis aufs Mark ausgehöhlt, zerfressen vom Wurm der Korruption. Und der Angst. „Ploma o plata“ – „Blei oder Geld“, heißt die Alternative für Funktionäre. Jeder, der aufmuckt, riskiert sein Leben. Journalisten, Menschenrechtler, Pfarrer, Blogger. Cristina Velarde hat es trotzdem versucht. Zusammen mit ein paar mutigen Nachbarn bat sie einen Lokaljournalisten, einen Hilfeaufruf an die Bundesregierung zu veröffentlichen: Sie möge Militärs schicken und Straßensperren einrichten. So wie es Calderón in Ciudad Juárez getan hat, in Monterrey oder in Acapulco, als die Gewalt überhandnahm. Doch Santa Rosa Treinta ist ein kleines, unwichtiges Dorf. Die Soldaten kamen nicht. Die Drogengangs sprühten nun immer häufiger Christina Velardes Namen an Hauswände. Es waren Warnungen. Sie zögerte nicht. Zusammen mit ihren Kindern und Enkeln packte sie ihre Sachen und verließ das Haus, in dem sie 50 Jahre lang gelebt hatte. Sie gingen in die Hauptstadt des benachbarten Bundesstaates Puebla. Sie suchten Schutz in der Anonymität der Großtadt.

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