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Vom Schutt umgeben. Eine Demonstrantin drückt sich im gestürmten Protestlager von Rabba al Adawiya in Kairo eine Atemmaske aufs Gesicht. Sicherheitskräfte hatten das Camp von Anhängern des entmachteten Präsidenten Mursi mithilfe von Tränengas geräumt. Foto: Mossab Elshamy/dpa

© dpa

Politik: Bulldozer, Tränengas und Brandbomben

Bei Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten sterben Hunderte, mehr als 1400 Menschen werden verletzt Sicherheitskräfte räumen Lager von Mursi-Anhängern – das Geschäftsleben in Kairo kommt zum Erliegen.

Von Alexandria bis Assuan zog sich am Mittwoch eine Spur der Gewalt durch ganz Ägypten. Nach der gewaltsamen Auflösung der beiden Protestcamps der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo griff die Gewalt auf viele Städte des Landes über. Übergangspräsident Adli Mansur reagierte am Nachmittag mit der Verhängung des Ausnahmezustandes für einen Monat. Die Polizei wird damit in die Lage versetzt, Verhaftungen ohne richterlichen Beschluss vorzunehmen. Die Regierung ordnete zudem für zahlreiche Provinzen, darunter Kairo, Giza und Alexandria, eine Ausgangssperre zwischen 21 und sechs Uhr morgens an.

Nachdem der liberale Politiker und Nobelpreisträger Mohammed el Baradei am Abend aus Protest gegen das Blutvergießen seinen Rücktritt als Vizepräsident eingereicht hatte, kursierten Gerüchte, dass zwei Vize-Premiers es ihm gleichtun wollten. Die Gerüchte wurden aber von der Regierung dementiert.

Nach der Räumung der Protest-Camps in Kairo organisierte die „Allianz zur Unterstützung der Legitimität“ Solidaritätskundgebungen für die Mursi-Anhänger im ganzen Land. An einigen Orten kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Die Ordnungskräfte unterbanden gewaltsam alle Versuche, neue Protest-Lager zu bilden. Armee und Polizei verstärkten den Schutz strategisch wichtiger Einrichtungen wie Flughäfen. Auf den Straßen von Kairo war kaum Verkehr. Viele Firmen bleiben geschlossen.

Wütende Anhänger des gestürzten Präsidenten, unterstützt von erzkonservativen Salafisten, griffen landesweit Polizeistationen an, sperrten Straßen und warfen Brandbomben gegen mehrere koptisch-christliche Kirchen in Oberägypten. Die Protestbewegung „Tamarud“ regte an, Volkskomitees zu bilden, um die Gotteshäuser zu schützen.

Das Kabinett trat zu einer Krisensitzung zusammen; es will am politischen Transformationsfahrplan festhalten. Der Interims-Regierungschef Hasem al Beblawi bekräftigte, dass es bei dem Fahrplan bleibe, der Neuwahlen Anfang des kommenden Jahres vorsieht.

Die Opferbilanz blieb bis zum Abend unvollständig. Die Regierung in Kairo bestätigte landesweit 278 Tote und über 1400 Verwundete. Andere Quellen nannten deutlich höhere Zahlen von Toten und Verletzten. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Auseinandersetzungen mit den Mursi-Anhängern landesweit 43 Polizisten getötet. Das Ministerium gab die Zahl der Verhaftungen mit über 540 an und erklärte am späten Abend, auch das Protestcamp Rabaa al Adawiya sei unter vollständiger Kontrolle der Sicherheitskräfte. Ein dpa-Reporter beobachtete, wie die Polizei in der Zeltstadt Brandbomben aus Zelten holten.

In Kairo wurde auch Mick Deane, ein Kameramann des britischen Senders Sky, erschossen. Der britische Premierminister David Cameron äußerte sich im Kurznachrichtendienst Twitter bestürzt über den Tod des 61-Jährigen.

Zuvor waren Befürchtungen um eine Eskalation der Gewalt am Mittwochmorgen zur Gewissheit geworden, als um sieben Uhr Militärhelikopter über dem Stadtzentrum von Kairo zu kreisen begannen. Die Sicherheitskräfte hatten damit begonnen, die beiden Lager der Anhänger Mursis in Rabaa al Adawiya und auf dem Nahda-Platz vor der Kairoer Universität aufzulösen. Dort fuhren sie mit schweren Bulldozern auf, walzten Dutzende Zelte nieder und vertrieben die Menschen mit Tränengas. Die Demonstranten reagierten mit dem Abbrennen von Autoreifen. Nach weniger als zwei Stunden meldeten die staatlichen Medien, der Nahda-Platz sei geräumt.

Das Nahda-Camp war zwar das kleinere – jeweils einige Hundert harrten über Nacht aus –, aber das strategisch wichtigere, weil es sehr nahe am Stadtzentrum gelegen ist. Die meisten der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern hatten in den vergangenen Wochen in dieser Gegend stattgefunden. Zuletzt am Dienstagabend, als die Muslimbrüder in ganz Kairo mehrere Protestzüge veranstaltet hatten. Sie waren vor mehrere Ministerien in der Stadtmitte gezogen. Einer ihrer Anhänger war erschossen worden.

Diese Strategieänderung könnte der Auslöser dafür gewesen sein, dass Regierung und Sicherheitskräfte ihre seit Wochen angekündigte Räumungsaktion nun in die Tat umgesetzt haben. Die Vereidigung von neuen Gouverneuren am Dienstag, die wie zu Mubaraks Zeiten fast ausschließlich dem Militär und der Polizei angehören, deutet zudem darauf hin, dass sich in der ägyptischen Übergangsregierung jene Kreise durchgesetzt haben, die für eine harte Haltung gegenüber den Islamisten eintreten.

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