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Deutschlands Bildungswesen in der Krise

© picture alliance / photothek/Thomas Trutschel

Chancenmonitor 2023: So ungerecht ist Deutschlands Bildungswesen

Bildungs- und damit Lebenschancen von Kindern sind dramatisch ungleich verteilt, belegt eine aktuelle Erhebung. Ein viel diskutierter Faktor aber hat dabei erstaunlich geringen Einfluss.

Worauf kommt es wirklich an für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen? Eine neue Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo gibt darauf Antworten und zeigt: Der Faktor mit dem bei weitem größten Einfluss ist der Bildungshintergrund der Eltern.

Wenn kein Elternteil Abitur hat, besuchen demnach nur 28,2 Prozent der Kinder ein Gymnasium. Hat ein Elternteil Abitur, steigt dieser Anteil schon auf 57,9 Prozent, sind es beide Elternteile, liegt der Wert bei 75,3 Prozent.

Das Aufstiegsversprechen in unserem Land muss wieder mit Leben gefüllt werden.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP)

„Das dürfen wir nicht hinnehmen“, sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung der Daten. „Kein Kind sucht sich aus, in welches Umfeld es geboren wird. Aber jedes Kind soll sich entscheiden können, welchen Lebensweg es wählt. Das Aufstiegsversprechen in unserem Land muss wieder mit Leben gefüllt werden.“

Seit Jahren gilt das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich als besonders ungerecht, die Aufstiegschancen von Kindern aus bildungsfernen Familien gelten als ausgesprochen schlecht. Die am Dienstag vorgestellte Studie untermauert dies nun.

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Die Bedeutung des Migrationshintergrunds

Gerechnet wurde mit Daten aus dem Mikrozensus, und zwar den neuesten verfügbaren aus dem Jahr 2019. Damit ist eine breite, repräsentative Datenbasis gegeben. Beauftragt wurde die Studie vom Verein „Ein Herz für Kinder“, einer Initiative des Axel-Springer-Verlags.

„Die entscheidenden Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland sind Bildung und Einkommen der Eltern. Weniger bedeutend ist ein Migrationshintergrund“, sagte Ludger Wößmann, Leiter der Studie und des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik.

Besonders gut lässt sich das zeigen, wenn man die verschiedenen Einflussfaktoren in der Kombination betrachtet. Zum Beispiel bei Familien, in denen beide Elternteile Abitur haben, ihre Kinder gemeinsam erziehen und das Haushaltsnettoeinkommen über 5500 Euro monatlich liegt – das sind also sozioökonomisch besonders gut gestellte Familien. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind das Gymnasium besucht, ist dann nahezu unabhängig davon, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Falls nein, liegt die Chance bei 80,3 Prozent, falls ja, sogar bei 80,6 Prozent.

Jungen haben schlechtere Chancen als Mädchen

Ähnlich ist es am anderen Ende des Spektrums. Zum Beispiel bei Familien, in denen kein Elternteil Abitur hat, ebenfalls die Eltern ihr Kind gemeinsam erziehen und das Haushaltsnettoeinkommen unter 2600 Euro pro Monat liegt. Hat das Kind Migrationshintergrund, liegt seine Chance, es aufs Gymnasium zu schaffen, bei 21,3 Prozent. Ohne Migrationshintergrund ist die Chance sogar minimal niedriger, nämlich bei 21,1 Prozent. Migrationshintergrund ist dabei so definiert, dass mindestens ein Eltern- oder Großelternteil nicht durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Das muss man erst mal miteinander sacken lassen.

Kai Gehring (Grüne), Vorsitzender des Bildungsausschusses im Bundestag, zu den Erkenntnissen zum Migrationshintergrund

Bei der Vorstellung der Studie meldete sich der grüne Bundestagsabgeordnete Kai Gehring zu Wort, der Vorsitzende des Bildungsausschusses: „Das muss man erst mal miteinander sacken lassen“, kommentierte er die Erkenntnisse zum Migrationshintergrund. Er dankte dafür, die Studie würde helfen, „gefühlte Wahrheiten zu zertrümmern“. Auch Studienleiter Wößmann sagte, in dieser Klarheit habe der Befund ihn überrascht.

Die entscheidenden Einflussfaktoren für den Bildungserfolg sind den Daten zufolge andere: außer dem Bildungshintergrund der Eltern auch deren Einkommen. Auch dazu ein Beispiel: Bleiben die Faktoren „fehlendes elterliches Abitur“, „Migrationshintergrund“ und „Alleinerziehendenstatus“ gleich, so steigt dennoch die Chance auf den Gymnasialbesuch mit dem Einkommen enorm: Im unteren Einkommensviertel liegt sie nur bei 21,1 Prozent, im obersten Einkommensviertel hingegen bei 39,7 Prozent.

Quer durch alle Gruppen zeigt sich außerdem, dass die Bildungschancen von Mädchen besser sind als die von Jungen. Insgesamt ist die Quote des Gymnasialbesuchs bei Jungen um 6,9 Prozentpunkte niedriger.

Die folgende Grafik zeigt den Einfluss der untersuchten Faktoren jeweils einzeln. Auf diese Art gemessen ist beispielsweise der Unterschied, ob ein Migrationshintergrund besteht oder nicht, größer, als wenn die Faktoren in der Kombination betrachtet werden. Aber auch in dieser Rechenart zeigt sich, dass der Einfluss der Faktoren „Abitur der Eltern“ und „Haushaltsnettoeinkommen“ sehr viel größer ist.

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Der Befund ist klar: Ob ein Kind das Abitur erreichen kann, hängt in großem Ausmaß davon ab, in welche Familie es hineingeboren wird. Doch was kann dagegen getan werden?

Das Forschungsteam, das die Studie erstellt hat, empfiehlt sechs Ansatzpunkte, um Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen:

  1. Frühkindliche Bildungsangebote für benachteiligte Kinder ausbauen: Hierbei geht es darum, zu erreichen, dass gerade benachteiligte Kinder die Kita besuchen. Derzeit ist es eher so, dass vor allem sozioökonomisch gut gestellte Familien es schaffen, ihren Anspruch auf einen Kitaplatz tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Forscher Wößmann schlägt beispielsweise eine Opt-out-Regelung vor. Das würde bedeuten, dass Kinder automatisch in einer Kita angemeldet sind und die Eltern sie aktiv abmelden müssten. Allein: Auch der Mangel an Kitaplätzen ist dramatisch.
  2. Familien benachteiligter Kinder bei der Erziehung unterstützen: Hierfür müssten Programme ausgebaut werden, in denen Familien niedrigschwellig und individuell betreut werden, zum Beispiel von Geburt des ersten Kindes an.
  3. Die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern bringen: Hierfür wären finanzielle Anreize ein denkbares Mittel. Doch ähnlich wie beim Thema Kitaplätze gilt: Der Mangel an Lehrkräften ist insgesamt dramatisch. Bei der Vorstellung der Studie meldete sich zudem Thomas Jarzombek zu Wort, bildungspolitischer Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion. Er schilderte am Beispiel Nordrhein-Westfalen, dass in der Praxis Gehaltsanreize null Wirkung zeigten, wenn es darum gehe, Lehrkräfte an Schulen in schwieriger Lage zu locken.
  4. Nachhilfeprogramme für benachteiligte Kinder früh und kostenfrei anbieten: In dem ifo-Papier werden Studien zitiert, die die gesamtwirtschaftlich sehr positive Wirkung von früher Nachhilfe belegen.
  5. Die Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulen verschieben: Dies ist ein schulpolitisch umstrittener Punkt. In Deutschland ist es traditionell so, dass die Kinder früh auf unterschiedliche Schulformen verteilt werden, in den allermeisten Bundesländern schon nach Klassenstufe vier. Im ifo-Papier findet sich aber das folgende Fazit: „Im internationalen Vergleich belegt die Forschung, dass die frühzeitige Aufteilung auf weiterführende Schulen die Ungleichheit bei den Schülerleistungen erhöht, ohne das Leistungsniveau zu verbessern.“
  6. Mentoring-Programm für benachteiligte Kinder fördern: Von großen und lang anhaltend positiven Effekten auf benachteiligte Kinder spricht die ifo-Studie mit Blick auf Mentoring-Programme. Die gibt es bisher aber nicht flächendeckend.

Noch eine weitere schlechte Nachricht enthält die Studie für Deutschlands Bildungspolitik. Zu Vergleichszwecken wurde der Chancenmonitor auch mit den Daten des Mikrozensus von 2009 errechnet. Der Befund: An der Ungleichheit der Bildungschancen hat sich in den zehn Jahren zwischen 2009 und 2019 nichts getan.

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