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Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister, setzt sich bei der Übergabe der ersten Lieferung von 100 Millionen gespendeten Schutzmasken eine Maske auf.

© Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa

Chaos beim Mundschutz: Hunderttausende von Jens Spahn bestellte Masken verstauben im Lager

Das Spahn-Ministerium holt große Lieferungen Masken seit Wochen nicht ab. Händlern droht die Pleite, das Ministerium wiegelt ab, Anwälte bereiten Klagen vor.

Der Lieferant, der anonym bleiben möchte, setzte im April alles daran, an Atemschutzmasken zu kommen, um diese aus China an das deutsche Bundesgesundheitsministerium (BMG) liefern zu können. Er arbeitet schon länger mit chinesischen Herstellern zusammen, die Geschäfte laufen meist über eine Agentin vor Ort.

„Sie hat vor der Fabrik übernachtet“, berichtet der Mann. Denn in jener Zeit seien US-amerikanische Behörden aggressiv auf die Suche nach Masken gegangen, hätten anderweitig bestellte Lieferungen teils vor den Fabriktoren weggekauft. Wenig später, so der Lieferant, wurde die erste Marge von Atemschutzmasken reibungslos nach Deutschland ausgeflogen, wo Kliniken, Arztpraxen und das gesamte Gesundheitswesen sie auf dem Höhepunkt der Corona-Krise dringend erwarteten.

Ein Großteil der mehr als halbe Million Masken läge nun immer noch in den Lagern des von der Bundesregierung beauftragten Logistikpartners Fiege. Der Lieferant selbst hingegen warten weiterhin auf die Hälfte des Geldes dafür, einen „niedrigen siebenstelligen Betrag“, wie er sagt.

„Mit dem BMG oder überhaupt der Regierung werde ich jedenfalls meinen Lebtag keine Geschäfte mehr machen.“ Er ist nicht der einzige, der frustriert ist: Bei mehr als 700 Lieferanten hat das BMG bestellt. Es geht um Milliardenbeträge, unzählige offene Rechnungen und viele Anwälte, die derzeit erwartungsvoll Klagen gegen das BMG vorbereiten.

„Das ist schlimmer als mit Amazon zu handeln“

Tagesspiegel Background hat mit mehreren Lieferanten gesprochen und sich in einem internen Online-Forum umgeschaut, in dem sich Dutzende von ihnen über ein anscheinend völlig aus dem Ruder gelaufenes Open-House-Verfahren des BMG austauschen.

„Das ist schlimmer als mit Amazon zu handeln“, sagt einer am Telefon, und alle Betroffenen teilen eine Erfahrung: Seit Wochen werden ihre Anfragen nicht nur vom BMG ignoriert, sondern auch von Fiege Logistik und der Unternehmensberatung „Ernst & Young“ (EY), mit der das Ministerium einen sechsmonatigen Vertretungs-Vertrag auf Tagessatzbasis abgeschlossen hat. 

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EY dürfte gut zu tun haben: Eine inoffizielle Gruppe von Lieferanten, die sich derzeit über juristische Schritte austauscht, umfasst nach Background-Informationen 101 Händler und Anwälte, im Forum sind es um die 40. Unter den Beteiligten wird immer wieder von einer Summe von 4,2 Milliarden Euro gesprochen, die das BMG schulde. 

BMG hat 1,2 Milliarden Euro eingeplant

Es geht um ein sogenanntes Open-House-Verfahren, das das BMG über die Generalzolldirektion Ende März online stellte und mit dem es 4,50 Euro für FFP-2-Masken und 60 Cent für OP-Masken anbot. Das Besondere am Open-House-Verfahren ist, dass jeder, der ein Angebot abgibt, auch zum Zuge kommt.

Und beim BMG war das Interesse offenbar sehr groß: 738 Aufträge wurden vergeben, das Ministerium spricht hier von „einem großen Erfolg“. Allerdings kam man danach offenbar nicht mit dem Ansturm der Maskenlieferungen klar, die alle vom TÜV geprüft werden mussten, bevor sie dann vorrangig an Kassenärztliche Vereinigungen und die Länder verteilt werden konnten. 

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Laut Ministerium habe jede fünfte Maske „nicht den Normanforderungen“ entsprochen. Ende Mai gab es erste Berichte über Händler, die auf ihr Geld vom BMG warten, und Tagesspiegel Background berichtete kürzlich über einen österreichischen Unternehmer, der mit 90 Millionen Masken im Wert von über 210 Millionen Euro in Istanbul nicht weiter kam, weil die Bundesregierung seine im Open-House-Verfahren zugesagte Liefermenge nicht abnahm.

Infografik: Können Schutzmasken das Ansteckungsrisiko verringern?
Infografik: Können Schutzmasken das Ansteckungsrisiko verringern?

© Tagesspiegel/ Rita Böttcher

Für wie viele Masken im Rahmen der Vergabe Verträge abgeschlossen wurden, ist unklar. Angesichts der 90 Millionen in Istanbul gestrandeten Masken, anderen Großlieferanten und der Tatsache, dass es mindestens 738 Vertragspartner des BMG gibt, erscheinen die 4,2 Milliarden Euro Auftragsvolumen, von denen mehrere Lieferanten übereinstimmend berichten, plausibel.

[Mehr zum Thema: Eine einfache Vorlage zum selber machen einer Gummiband-Maske]

Auf die Frage, ob es die Summe bestätigen oder dementieren kann, antwortete das BMG nicht. Stattdessen kam eine Auskunft darüber, dass man „aus dem Open-House-Verfahren Lieferungen über insgesamt 198 Millionen FFP2- und 64 Millionen OP-Masken“ erhalte. Das entspricht ziemlich exakt dem vorhandenen Geld. „Es stehen 1,2 Milliarden Euro Haushaltsmittel zur Begleichung der Rechnungen zur Verfügung“, so eine BMG-Sprecherin. Bislang seien knapp 190 Millionen FFP2- und OP-Masken geliefert worden.

Viele Händler steuern geradewegs in die Insolvenz

Indes gibt es unzählige Lieferanten, die davon berichten, vom BMG aufgefordert worden zu sein, ihre Ware bei Fiege wegen Qualitätsmängeln wieder abzuholen. Eines dieser Schreiben liegt Tagesspiegel Background vor. Zentraler Satz: „Wegen vorstehend näher bezeichneter Mangelhaftigkeit Ihrer Lieferung erklären wir hiermit den Rücktritt vom mit Ihnen geschlossenen Vertrag hinsichtlich der erhaltenen Lieferung.“ 

Der anonyme Händler mit der chinesischen Geschäftspartnerin berichtet, dass er Fiege sogar angeboten habe, die bislang nicht bezahlte Ware wieder aus deren Lager abzuholen. Allerdings bekomme er seit mehr als einem Monat keinen Termin dafür. Bei Fiege Logistik erklärt ein Sprecher, dass „wir selbstverständlich sicherstellen, dass Händler Retouren bei uns abholen lassen können. Hierfür müssen Abholbedingungen eingehalten werden.“

Der Fiege-Sprecher beteuert, es gebe „keine Überlastung unserer Logistikkette“. Auf einer FAQ-Seite des BMG klingt es etwas anders: „Die Annahme von vielfach in Teillieferungen gesplitteten 738 Aufträgen hat zu erheblichen Logistikproblemen geführt.“

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Weder sehe er also Geld vom BMG, fasst der Lieferant zusammen, noch könne er die Masken, die einen negativen TÜV-Bescheid hätten, beim Hersteller reklamieren, und auch nicht jene mit einem positiven Bescheid anderweitig verkaufen.„Dafür wird beim Finanzamt bald die Mehrwertsteuer fällig.“

Er als solider Mittelständler könne das finanzieren, aber viele andere der mehr als 700 anderen Kollegen steuerten „geradewegs in die Insolvenz“, ist er überzeugt. Er gehe nicht davon aus, das Geld abschreiben zu müssen, sehr wohl aber davon, vor Gericht gegen das BMG zu siegen.

Anwalt sieht Abnahmegarantie

Im Forum versuchen derzeit mehrere Händler, bestellte Ware, die von Fiege Logistik nicht angenommen werde, zu verkaufen. „Wir haben leider auch bei der Open-House-Aktion teilgenommen und stehen nun vor dem Aus“, lautet einer dieser Einträge. Daneben finden sich inzwischen mehrere Aufrufe von Anwälten, sie zu kontaktieren, etwa für Sammelklagen gegen das BMG.

Auch Thomas Mösinger hat inzwischen ein Mandat in der Sache angenommen. Der Frankfurter Fachanwalt für Vergaberecht sieht den Grundfehler darin, dass das BMG das Open-House-Verfahren nicht als Rahmenvertrag aufgesetzt habe, wie es zum Beispiel die Gesetzliche Krankenversicherung bei der Beschaffung von Arznei- und Hilfsmitteln praktiziere.

Stattdessen habe jeder, der sich auf die Ausschreibung mit einer selbst gewählten Menge von Masken beworben habe, auch einen Vertrag bekommen. Daraus ergibt sich nach Mösingers rechtlicher Interpretation auch eine Abnahmegarantie, also ein „Leistungsaustausch“. 

[Mehr zum Thema: Sinnvoll oder nicht? Atemschutzmasken im Check]

Es mache eben einen Unterschied, verdeutlicht Mösinger, „ob ich eine Pizza bestelle oder verlautbare, dass ich alle Pizzen, die mir geliefert werden, dann auch bezahle“. Das BMG habe offenbar „unterschätzt, wie viele Menschen irgendwelche China-Connections haben, mit denen sie dann hofften, leicht einen Millionenauftrag an Land zu ziehen“.

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Spahns Haus habe aus seiner juristischen Sicht bei der Vergabe „einen gewaltigen Fehler gemacht, man hätte auch ohne Probleme und mit einer Obergrenze für die Liefermenge ein Dringlichkeits-Vergabeverfahren aufsetzen können“. 

Seit wann ist EY zuständig?

„Hunderte von Händlern werden derzeit“, schreibt einer der Lieferanten auf Anfrage, „mit Pseudoargumenten und Nebeleien, inszeniert von Ernst & Young“, hingehalten. Er selbst habe zum im Open-House-Verfahren festgelegten Stichtag, dem 30. April, „mangelfrei Ware“ geliefert, sei dann den gesamten Mai um Geduld mit der Rechnungsbegleichung und dann schließlich im Juni um Rücknahme der Lieferung gebeten worden.

„Ein Prüfbericht, womit ja der Rücktritt begründet wird, wurde nicht vorgelegt“, schreibt er. „Anwalt wurde eingeschaltet und Mahnschreiben ging raus. Selbstverständlich keine Reaktion bisher.“ 

Bei EY gibt es keine Stellungnahme, man verweist stattdessen auf das BMG. Dort wird erklärt, dass die Unternehmensberatung seit 18. Mai „die operative Betriebsführung bei der Durchführung der Verträge über die Beschaffung von Schutzausrüstung“ übernommen habe. Allerdings schickte EY schon am 13. Mai Briefe an Vertragspartner des Open-House-Verfahrens, die Schreiben liegen Tagesspiegel Background vor. 

Der Tagessatz für EY orientiere sich laut BMG „an dem letzten wettbewerblichen Verfahren, welches EY vor der Corona-Krise beim Bund in einer europaweiten Ausschreibung gewonnen hat“. Die Verzögerungen bei den Rechnungsbegleichungen, so das Ministerium weiter, seien „bedauerlich“.

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