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Die Volksseele kocht. Ein Demonstrant hält in Kairo ein Protestplakat gegen Mohammed Mursi hoch, das Ägyptens Staatschef mit Hitler und Mussolini vergleicht.Foto: Katharina Eglau

© Katharina Eglau, Winterfeldtstr.

Politik: Coup vor Sonnenaufgang

Ägyptens Staatschef Mursi lässt sich von den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz nicht beeindrucken.

Sie fühlen sich provoziert. „Diktator, Diktator“, schallt es über den Platz. „Hau ab“ prangt in roten Lettern auf einem Banner, der Kopf von Präsident Mohammed Mursi mit Blutspritzern befleckt. „Wo bleibst du Allah, hol Mursi und die Muslimbrüder wieder ab“, skandiert die Menge unter johlendem Applaus. Wie schon vor drei Tagen beim ersten Massenprotest des säkularen Ägyptens strömtem am Freitag erneut Zehntausende in Sternmärschen auf den Tahrir-Platz in Kairo, um ihren Unmut gegen den islamistischen Staatschef kundzutun.

„Wir verlangen Antworten“, sagt Mohammed Gaballe, der seit einer Woche auf dem legendären Kreisverkehr kampiert. „Mursi will uns die Revolution stehlen“, ist der 27-Jährige überzeugt, der bei einer Immobilienfirma in Neu-Kairo beschäftigt ist. „Viel zu viel haben wir im Kampf gegen Mubarak geopfert, um uns jetzt einen neuen Mubarak einzufangen.“ Schon damals, beim Volksaufstand im Februar 2011, hat er alle 18 Tage auf dem Tahrir-Platz gekämpft, traf ihn eine Kugel ins Bein. Jetzt stehen die Zelte wieder dicht an dicht.

Doch Staatschef Mursi denkt nicht daran einzulenken. In der Nacht zum Freitag bis kurz vor Sonnenaufgang ließ er alle 234 Artikel der umstrittenen neuen Verfassung durch die Versammlung peitschen. Sämtliche nicht islamistischen Abgeordneten, Säkulare, Gewerkschafter und Kopten, hatten zuvor ihre Mandate niedergelegt, so dass Muslimbrüder und Salafisten beim live im Fernsehen übertragenen Schlussvotum gänzlich unter sich waren. Lediglich vier verschleierte Frauen waren im Plenum zu sehen, ansonsten dominierten Männer mit Bärten das Bild. Das Referendum über die Verfassung werde nun „sehr bald“ erfolgen, hieß es ungerührt aus dem Präsidentenpalast. Und sobald die Verfassung vom Volk gebilligt sei, lege er alle Sondervollmachten sofort nieder, hatte Mursi noch am Vorabend versprochen.

Doch es sieht nicht so aus, als wenn der Kampf um die neue Verfassung so bald vorüber wäre. Die islamistische Mehrheit will eine vom Islam geprägte Charta, die den Religiösen das letzte Wort bei Recht und Moral zubilligt. Die säkularen Kräfte dagegen möchten das zusammen mit der koptischen Minderheit und den alten Mubarak-Eliten um jeden Preis verhindern. „Der Text ist bestenfalls ein Stück politischer Folklore und wird im Mülleimer der Geschichte landen“, spottete Friedensnobelpreisträger Mohammed al Baradei. Die Verfassungsversammlung habe längst jede Legitimität verloren, kritisierte er. Für diesen Samstag haben die Muslimbrüder ihre Anhänger nach Kairo zu einer Demonstration der Stärke zusammengetrommelt. Am Sonntag tritt das Verfassungsgericht zusammen und wird wahrscheinlich die verfassunggebende Versammlung für ungültig erklären.

„Mursi bringt Ägypten auseinander und treibt das Volk in Streit und Konfrontation“, meint Hisham Mahmud, der mit seiner 15-jährigen Tochter Nour auf den Tahrir gekommen ist, um ihr „ein Beispiel lebendiger Demokratie zu zeigen“, wie er sagt. Die neue Verfassung lehnt der Reiseunternehmer ab, weil sie in seinen Augen Andersdenkende ignoriert und zur Seite schiebt.

Doch das sehen nicht alle so. Mahmoud Elkholy hat die ganze Nacht vor dem Computer gesessen und das neue Grundgesetz bereits Punkt für Punkt studiert, insgesamt 27 eng bedruckte Seiten, wie er sagt. „Ich habe nichts Problematisches gefunden“, meint der 30-jährige Buchhalter, der bei der staatlichen Ölgesellschaft arbeitet. Mursi werde in dem Konflikt nicht nachgeben. Viele auf dem Tahrir, die jetzt protestierten, aber hätten den Text noch nicht einmal gelesen. „Ich hoffe, dass das Volk die Verfassung jetzt schnell verabschiedet“, sagt er.

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