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Politik: Der Kampf geht weiter

Türkisches Gericht annulliert erste Runde der Präsidentenwahl – Erdogan will Verfassungsänderung

Istanbul - „Schicksalstag“ titelten die türkischen Zeitungen am Dienstag, doch in der Krise des Landes wird derzeit fast jeder Tag zum Schicksalstag. Den Machtkampf um das Präsidentenamt sollten die türkischen Verfassungsrichter eigentlich entscheiden, doch statt dessen läuteten sie eine neue Runde ein – und der Kampf geht weiter. Nachdem das Gericht den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl anullierte, nicht aber das komplette Wahlverfahren, soll das Parlament bereits an diesem Mittwoch einen neuen Versuch zur Wahl eines Präsidenten unternehmen, der allerdings nur mit Unterstützung einiger Oppositionsabgeordneter gelingen könnte. Unabhängig vom Ausgang dieser Abstimmung bot die Regierung der Opposition am Dienstag vorgezogene Neuwahlen womöglich schon im Juni an. Auch der für das Präsidentenamt kandidierende Außenminister Abdullah Gül forderte Neuwahlen. Wie Erdogan rief er zu einer Verfassungsänderung auf, wonach der Staatschef vom Volk gewählt werden könnte.

„Die Entscheidung des Parlaments ist aufgehoben“, verkündete der Vizepräsident des Verfassungsgerichts, Hasan Kilic, das Urteil über den ersten Wahlgang der Präsidentenwahl am vergangenen Freitag. Das Gericht folgte damit dem Antrag der Republikanischen Volkspartei (CHP), die im Parlament die größte Oppositionsfraktion stellt und die Wahl des derzeitigen Außenministers zum Staatspräsidenten mit allen Mitteln verhindern will. Die CHP hatte den Wahlgang boykottiert, um das Parlament beschlussunfähig zu machen, und dann die Verfassungsrichter angerufen: Weil aufgrund ihrer Abwesenheit nicht zwei Drittel aller Abgeordneten anwesend waren, müsse die Wahl für ungültig erklärt werden, forderte die CHP – und das Gericht folgte ihr.

Zwar steht in der türkischen Verfassung nichts davon, dass an der Präsidentenwahl zwei Drittel aller Abgeordneten teilnehmen müssen. Die Verfassung schreibt lediglich vor, dass ein Kandidat zwei Drittel aller Abgeordneten auf sich vereinen muss, um im ersten oder zweiten Wahlgang gewählt zu werden; im dritten Wahlgang genügt die einfache Mehrheit. Die Verfassung schreibe dies implizit vor, wenn es auch nicht explizit im Text stehe, argumentierte die CHP. Diese Ansicht wird nur von wenigen Juristen geteilt, weil sie in einen Teufelskreis führt, in dem die Opposition bei jeder Präsidentenwahl Neuwahlen erzwingen kann. Mit einer rein juristischen Entscheidung hatte aber ohnehin niemand gerechnet. Das Urteil ist so politisch wie das Verfassungsgericht selbst, dessen Mitglieder vom Staatspräsidenten ausgesucht werden.

Weil das Verfassungsgericht nicht den gesamten Wahlprozess stoppte, sondern nur den ersten Wahlgang anullierte, geht das Ringen im Parlament vorerst weiter. Statt an diesem Mittwoch wie geplant in den zweiten Wahlgang einzutreten, soll die Volksvertretung nun ganz von vorne mit der Präsidentenwahl beginnen. Das Parlamentspräsidium soll dafür am Mittwoch einen neuen Zeitplan aufstellen. Im Unterschied zum anullierten ersten Wahlgang – und zu allen früheren Präsidentenwahlen – muss nach dem Urteil des Verfassungsgerichts nun zu Sitzungsbeginn stets eine Anwesenheit von mindestens zwei Drittel der Abgeordneten festgestellt werden, bevor abgestimmt werden darf. Das bedeutet, dass die regierende AKP zusätzlich zu ihren 352 Abgeordneten noch mindestens 15 Vertreter der Opposition dazu bewegen muss, in den Saal zu kommen, um abstimmen zu können.

Oppositionsführer Deniz Baykal kündigte bereits an, auch die künftigen Wahlgänge zu boykottieren, um so die Wahl von Gül zu verhindern. Was geschehen soll, wenn – wie absehbar – deshalb auch weiterhin kein Zweidrittel-Quorum herzustellen ist, das ließen die Verfassungsrichter offen: Dies sei Sache des Parlaments, sagte Richter Kilic. Wenn bis zum Ablauf der Amtsperiode des scheidenden Präsidenten Ahmet Necdet Sezer kein Nachfolger gewählt werden kann, muss das Parlament ohnehin aufgelöst werden.

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