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Bescheiden, dennoch zwang sie anderen oft die deutsche Sichtweise auf: Angela Merkel (hier mit Ex-Präsident Donald Trump).

© picture alliance/dpa

Deutschlands besonderes Verhältnis zum Wandel: Auf Autopilot zum Erfolg

Die deutsche Fixierung auf Stabilität lässt ausländische Beobachter verzweifeln. Auch bei dieser Wahl. Aber Berlin fährt damit erfolgreich. Ein Gastbeitrag.

John Kornblum war von 1997 bis 2001 US-Botschafter in Deutschland und ist Gründungsmitglied der American Academy in Berlin

Für jemanden wie mich, der seit über 50 Jahren in Deutschland lebt oder arbeitet, sind diese Wochen vor den Bundestagswahlen eher frustrierend als aufregend. Immer wieder zwicke ich mich, um mich daran zu erinnern, dass ich Deutschlands im Autopilot-Modus beobachte, der aber auf Erfolg eingestellt ist.

Immerhin wird dieses mal ein neuer Kanzler oder eine Kanzlerin gewählt - erst das dritte Mal in 40 Jahren. Und für die Unterhaltung sorgt eine linguistische Erfindung, das Triell, das offensichtlich ein Duell zwischen drei statt zwei politischen Gegnern ist.

Aber selbst diese Neuerungen werden nicht verhindern, dass das Siegerteam, wenn es erst einmal im Amt ist, die Politik der Vorgängerregierung in große Zügen fortsetzen wird. Schaut in die Wahlprograme: Angesichts immenser Herausforderungen wie Klimaschutz und Covid-19 versprechen selbst die Grünen nur die Stärkung bereits bekannter Ziele. Und alle Kandidaten haben gleich wenig Interesse an der tumultuösen Welt außerhalb Deutschlands - es bleibt beim Bekenntnis zu Europa und zur Nato sowie bei der obligatorischen Kritik an den USA.

Angela Merkel kennt die Formel. Sie hatte sechzehn Jahre lang Erfolg mit dem einfachen Slogan „Keine Experimente“, den sie sich von Konrad Adenauer abgeschaut hat. Kritik aus dem Ausland an ihrer sogenannten Unbeweglichkeit ging an der Sache vorbei. Merkel hat Deutschland genau dorthin geführt, wo es hinwollte.

Keine Experimente - der Wahlslogan Adenauers funktioniert immer noch

Auch bei dieser Bundestagswahl wird es genauso sein. Bei aller Aufregung in den Medien über die Grünen ist der beliebteste Kandidat für die Nachfolge Merkels ihr Klon, der 63-jährige SPD-Finanzminister Olaf Scholz.

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Verwirrte ausländische Beobachter könnten zu dem Schluss kommen, dass Deutschland stagniert und es bergab geht. Oder dass die Frustration so groß sein muss, dass es jetzt vor kreativen Initiativen nur so explodiert. Es tut mir leid, aber beide Schlüsse sind falsch. Auch 2021 wird die neue Regierung nur sehr begrenzt Veränderungen durchsetzen, in der Innen- wie in der Außenpolitik.

Und warum? Weil die Deutschen sehr davon profitiert haben, was ich dynamische Unbeweglichkeit nenne. Natürlich verändert sich Deutschland, teilweise dramatisch, aber das passiert fast nie am helllichten Tage an der Wahlurne. Eine Gesellschaft, die sich vor 75 Jahren nur knapp der Selbstausrottung entkommen ist, tut sich schwer mit jeder Art von Veränderung. Daher bedeuten Wahlen in Deutschland nicht Veränderung, sondern sie dienen dazu, Führungspersonen zu wählen, die den Freiraum schaffen für Veränderungen - indem sie den gesellschaftlichen Konsens eher bestätigen als ihn zu ersetzen.

Auch die Jüngeren spüren instinktiv, dass Deutschlands Autopilot erfolgreich ist

Selbst unzufriedene jüngere Generationen werden, nachdem sie etwas Dampf abgelassen haben, instinktiv spüren, dass Deutschlands Autopilot auch ihr Erfolgsgeheimnis ist.

So wie Lenin es einst auf den Punkt brachte: "Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte."

Lenin lag aber nicht ganz richtig. Deutschland mag übermäßig ordnungsliebend sein, aber es gibt kaum ein Land in Europa, das in den vergangenen 100 Jahren so viele Umbrüche erlebte. Eben nur nicht am Wahltag. Die Wiedervereinigung ist ein gutes Beispiel dafür. Sie scheint einfach passiert zu sein, ohne Vorwarnung oder Planung. Westdeutsche Politiker versuchten beispielsweise, Ronald Reagans Rede am Brandenburger Tor 1987 mit der Begründung zu verhindern, dass sie zu destabilisierend sei. Der größte Teil des Landes war wirklich überrascht, als zwei Jahre später die Mauer fiel.

Oder wie sieht es mit dem Schicksal von Politikern aus, die wirklich versuchen, den Wandel zu verkaufen? Zum Beispiel die Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen, die Angela Merkel 2005 aus dem Amt gejagt hat? Gerhard Schröder hat sich selbst übertroffen und genau die Art von neoliberalen Wirtschaftsreformen durchgesetzt, die Merkels CDU immer zu unterstützen vorgibt. Das war vor sechzehn Jahren, und weder die SPD noch die Grünen sind seitdem auch nur annähernd so weit gekommen, die CDU oder Angela Merkel abzuwählen.

Ein Musterbeispiel für dynamische Unbeweglichkeit

Sollte die CDU nun, nach 32 der vergangenen 40 Jahre an der Regierung, abgewählt werden, wäre das ein Einschnitt. Aber mit einem Politiker wie Olaf Scholz an der Spitze wäre das wohl kaum eine radikale Veränderung.

Mit anderen Worten: Nach einem verhängnisvollen Flirt mit der Weltmacht im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert ist Deutschland zu einem Musterbeispiel für dynamische Unbeweglichkeit geworden. Das Europa von Ronald Reagan, könnte man sagen.

Autopilot scheint der Standardmechanismus für ein Land zu sein, das immer noch nicht weiß, wo es hingehört. Die Wähler sind wohl nach wie vor auf die drei traditionellen Nachkriegsgrundlagen fixiert: Stabilität, Respektabilität und Frieden.

Wenn man sich dieses Dreieck vor Augen hält, klärt sich einiges, Nordstream II zum Beispiel. Diejenigen, die die Deutschen für ihren Mangel an Mitgefühl und Solidarität beschimpfen, haben den Code nicht geknackt. Langsam und ohne viel Aufhebens hat Deutschland die atlantische Welt seit mehr als 60 Jahren nach seinen eigenen Vorstellungen umgestaltet. Aber selbst dieser Erfolg wurde übersehen, weil Deutschland es verstanden hat, sich hinter den Vereinigten Staaten zu verstecken, um ein Image der Selbstlosigkeit aufzubauen. In Wirklichkeit hat Deutschland seine Ziele so zielstrebig verfolgt, wie Charles de Gaulle es für Frankreich getan hat.

Deutschland gibt sich bescheiden, ist aber selbstbewusst und sogar intolerant

Deutschland mag glauben, dass es bescheiden ist, aber wenn es um sein heiliges Dreieck geht, verhält es sich selbstbewusst und oft intolerant. Zum Beispiel in den immer wiederkehrenden Euro-Debatten. Auf diese die Art und Weise hat das Nachkriegsdeutschland seine Macht ausgeübt. Es passt sich an die Umstände an und entwickelt seine Stärke daraus, dass es anderen seinen internen Konsens aufzwingt. Die Ziele werden eher denen der Schweiz oder vielleicht sogar Belgiens entsprechen als denen des Silicon Valley oder des Elysée-Palastes. Aber Deutschland wird darauf bestehen, dass sie akzeptiert werden.

Wie wichtig die Atlantische Gemeinschaft für die Wahrung des europäischen Gleichgewichts mit diesem Deutschland ist, ahnte Richard Holbrooke schon vor 25 Jahren, als er in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ argumentierte, Amerika sei eine europäische Macht geworden.

Mit anderen Worten, die Vereinigten Staaten sind zum Deutschland Europas geworden, dem zentralen Gleichgewicht des Kontinents. In den Worten von Angela Merkel dagegen ist Deutschland das Amerika Europas, also ein "Motor für Veränderung." Was bislang fehlt, ist ein europäisches Europa, und darauf werden wir noch lange warten müssen.

Gemeinsam mit Nordamerika werden die Europäer dafür sorgen müssen, dass westliche Werte das Fundament einer global vernetzten Welt bilden, in der Werte und Wertschöpfung an die Stelle traditioneller Definitionen von Macht treten werden.

Die Aussichten sind gar nicht so schlecht dafür. Das ist eine Zukunft, auf die Deutschland mit seiner einzigartigen Beharrlichkeit gut vorbereitet ist. Aber die Ergebnisse müssen auf lange Sicht erzielt werden. Echter Wandel lässt sich nicht per Gesetz verordnen.

Regierungen neigen dazu, der öffentlichen Meinung zu folgen, anstatt sie zu schaffen. Ronald Reagan hat den Wandel in Amerika in den 1980er Jahren nicht eingeleitet. Er spürte eine Stimmung und überzeugte dann das amerikanische Volk auf brillante Weise davon, dass der Wandel ihr Leben verbessern würde. Dasselbe gilt für Donald Trump.

Die gleiche Art von Stimmung baut sich in Deutschland auf. Wir erreichen einen Punkt, an dem die Gefahren der Untätigkeit nicht mehr zu ignorieren sind. Das deutet darauf hin, dass der Wandel, wenn er denn kommt, schnell vonstatten gehen wird. Aber die Hoffnung, dass Deutschland Europa zu neuer Größe führen wird, indem es endlich den Autopiloten ausschaltet, wird uns nicht weiterbringen.

John Kornblum

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