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Der Jurist Stephan Weil, 56, löste 2013 David McAllister als niedersächsischen Ministerpräsidenten ab.

© dpa

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil: „Die Asylverfahren dauern viel zu lange"

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über Lehren aus Tröglitz – und warum Flucht und Asyl die größten innenpolitischen Herausforderungen sind.

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Herr Weil, nach dem Brandanschlag auf ein Flüchtlingslager in Tröglitz hat der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, gesagt, „Tröglitz ist überall“. Hat er recht?

Erfreulicherweise ist Tröglitz nicht überall. Dass Rechtsextreme in einem Ort mehr oder weniger offen ihr Unwesen treiben und nun auch noch einen Brandanschlag verüben, das gibt es in Niedersachsen nicht. Aber man muss als Gesellschaft ständig daran arbeiten, dass die Rechtsextremen keinen Boden gewinnen können.

Ist die Bevölkerung in Niedersachsen angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen nicht verunsichert?

Die Zahl der Flüchtlinge, die in Niedersachsen aufgenommen wurden, hat sich in den ersten drei Monaten des Jahres deutlich erhöht. Hält dieser Trend an, dann werden wir am Ende des Jahres etwa 50 Prozent mehr Asylanträge im Land haben als 2014, also rund 30 000. Das ist eine riesige Beanspruchung für alle Beteiligten und natürlich auch für das gesellschaftliche Klima. Man muss die Sorgen der Menschen in den Kommunen sehr ernst nehmen. Alle Beteiligten stehen unter Stress. Aber ich kann auch sagen, dass die Menschen in meinem Bundesland nach wie vor sehr hilfsbereit sind und auch bereit, für eine offene Gesellschaft auf die Straße zu gehen. Als Anfang des Jahres die Pegida-Demonstrationen Aufsehen erregten, da gab es bei uns sehr große Gegendemonstrationen, auch in Kleinstädten. Das steht uns gut an.

Ist Tröglitz ein Problem Ostdeutschlands?

Als Wessi sollte man sich hüten, über vermeintliche Ost-Probleme zu sprechen. Mir ist aber schon aufgefallen, dass die Anziehungskraft von Pegida in einigen ostdeutschen Bundesländern wesentlich größer ist als im Westen.

Warum ist das so?

Darüber sollten Ministerpräsidenten aus dem Westen nicht spekulieren. Ich glaube, Politiker müssen immer wieder deutlich machen, dass Toleranz und Weltoffenheit für uns nicht zur Disposition stehen. Natürlich sind Ängste ernst zu nehmen, aber man darf Grundwerte der Gesellschaft nicht relativieren. Wenn das über viele Jahre hinweg zusammen mit den Partnern in der Gesellschaft, von Gewerkschaften über Schulen bis hin zu den Kirchen gelingt, dann ist die Bevölkerung gegen rechte Parolen besser immunisiert.

Die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte ist besonders in kleinen Städten und dörflichen Regionen hoch. Soll man die Flüchtlinge mehr in Großstädten unterbringen?

Davon halte ich nichts. Wenn viele Flüchtlinge an wenigen Orten konzentriert werden, dann steigen dort Risiken und die Möglichkeiten einer Integration sinken. Ich erlebe gerade in niedersächsischen Kleinstädten, dass die Menschen dort von „unseren Flüchtlingen“ sprechen, wenn sie sich um Integration bemühen. Für mich kommt darin eine menschliche Verbundenheit zum Ausdruck, die man nicht erreichen kann, wenn die Zahl der Flüchtlinge, die an einem Ort untergebracht werden, sehr hoch ist.

Ihr Parteichef, Sigmar Gabriel, hat den Kommunen signalisiert, dass sich der Bund an den Kosten der Flüchtlingsunterbringung stärker beteiligen wird und eine Lösung im Rahmen der Bund-Länder-Finanzgespräche angekündigt. Ist das eine gute Idee des Vizekanzlers?

Dass sich der Bund stärker an den Kosten beteiligt, ist eine sehr gute Idee, das in die Bund-Länder-Gespräche über die Finanzbeziehungen einzubringen, ist keine gute Idee. Es ist nicht zu bestreiten, dass Flucht und Asyl gesamtstaatliche Aufgaben sind. Die Finanzlasten können nicht bei Ländern und Kommunen hängen bleiben. Uns wäre schon sehr geholfen, wenn der Bund rasch für eine bessere Personalausstattung des Bundesamtes für Migration sorgen würde. Das ist der entscheidende Flaschenhals, denn die Asylverfahren dauern viel zu lange. Und zwar sowohl dann, wenn absehbar ist, dass dem Antrag stattgegeben wird, als auch dann, wenn von vornherein zu erkennen ist, dass der Antragsteller abgeschoben werden wird. Wenn die Verfahren kürzer werden, dann entlastet das auch die Länder und Kommunen. Deshalb muss der Bund hier sehr konzentriert nachsteuern.

"Das Flüchtlingsthema ist ausdrücklich eine gesamtstaatliche Aufgabe"

Im Dezember hat der Bund für 2015 und 2016 den Kommunen je 500 Millionen Euro für die Finanzierung von Flüchtlingsunterkünften zugesagt. Reicht das?

Als Erstes möchte ich daran erinnern, dass die Länder davon die Hälfte letztlich selbst zahlen. Und dann muss man wissen, dass wir im Dezember 2014 von ganz anderen Daten ausgegangen sind. Wenn sich der Trend fortsetzt und die Bewerberzahlen 2015 dramatisch steigen, dann ändert sich die Geschäftsgrundlage, auf der wir im letzten Jahr die Zahlungen des Bundes festgelegt haben. Es steht außer Frage: Der Bund muss sich bewegen. Ich halte es für zwingend erforderlich, dass wir noch im Sommer bei einem Flüchtlingsgipfel die veränderte Lage analysieren und Entscheidungen treffen müssen. Der Umgang mit dem Thema Flucht und Asyl ist ohne Zweifel in diesem Jahr die größte innenpolitische Herausforderung für Deutschland.

Der Bund unterstützt die Kommunen umfangreich, er übernahm Kosten bei Sozialhilfe und Grundsicherung, bald könnte er auch die Eingliederungshilfe für Behinderte zahlen. Und gerade erst hat er ein kommunales Investitionspaket auf den Weg gebracht. Reicht das alles nicht?

Es ist richtig, dass die Bundesregierung deutliche Schritte auf die Kommunen zugegangen ist. Das möchte ich ausdrücklich würdigen. Man kann es aber nicht mit dem Flüchtlingsthema vermischen, das ausdrücklich eine gesamtstaatliche Aufgabe ist. Grundsätzlich gilt: Der Bund hat seine Probleme mit der Schuldenbremse augenscheinlich gelöst, die Länder haben da noch sehr viel Arbeit zu leisten, und für viele Kommunen gilt, dass sie selbst unter günstigsten Bedingungen nicht aus den roten Zahlen herauskommen können.

Herr Ministerpräsident, seit hundert Tagen gibt es einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Eindeutig: Die Einführung des Mindestlohnes ist wesentlich ruhiger und entspannter gelaufen, als man das zuweilen beim Zeitungslesen glaubt.

Arbeitgeber und Unionspolitiker schimpfen gewaltig über Bürokratielasten.

Eine Blitzumfrage der Handelskammer Hannover hat uns gerade gezeigt, dass die Probleme durchaus überschaubar sind. Ich glaube, dass die Einführungsschwierigkeiten angesichts der Tatsache, dass es sich beim Mindestlohn um ein ganz neues Instrument handelt, von einigen sehr übertrieben wurden.

Der Mindestlohn war der Wahlkampfschlager der SPD. Nun ist er Wirklichkeit, doch die SPD liegt bundesweit weiter bei Umfragewerten von 25 Prozent.

Die SPD hat einen großen sozialpolitischen Erfolg erzielt, der sich leider nicht in den Umfragewerten niedergeschlagen hat. Dafür braucht es mehr.

Was kann Ihrer Partei noch helfen?

Die SPD muss über ihr gutes und notwendiges sozialpolitisches Profil hinaus ihre Kompetenzen in allen Fragen der Arbeit herausstellen. Das ist das Schlüsselthema aller Menschen, die der SPD nahestehen. Sie wollen, dass die SPD sich darum kümmert, wie Arbeit auch in Zukunft geschaffen und gesichert werden kann. Dazu müssen wir die Themen Bildung und Qualifizierung massiv in den Vordergrund stellen. Die Sicherung von Fachkräften ist das größte Problem, das die deutsche Volkswirtschaft in den nächsten Jahren haben wird, und die SPD hat auch Antworten darauf. Dabei geht es um Bildung genauso wie um Zuwanderung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Braucht Deutschland ein Zuwanderungsgesetz?

Ich halte diesen Weg für vernünftig.

Das Thema Industrie 4.0 ist das Leitthema der Hannover-Messe, die an diesem Sonntag beginnt. Liegen in der Digitalisierung, der weiteren Vernetzung und der Automatisierung eher Chancen oder eher Risiken für die Arbeitnehmer?

Ich glaube, dass die Chancen überwiegen. Die Industrie steht weltweit vor einer neuen Phase, in der es um die Durchdringung der Wirtschaft mit Informationstechnologie geht. Dazu braucht man hoch qualifizierte Menschen, und das ist eine der Stärken Deutschlands. Damit wir aber hier den Anschluss nicht verlieren, müssen wir intensiv in die nächste und übernächste Generation von Fachkräften investieren. Es ist kein Geheimnis, dass in den kommenden Jahren Millionen Jobs ersetzt werden müssen. Das bedeutet, dass Politik und Gesellschaft jetzt das Augenmerk auf schulische und berufliche Ausbildung lenken müssten. Das gilt insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen.

Herr Weil, soll Sigmar Gabriel die SPD 2017 als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl führen?

Diese Frage zweieinhalb Jahre vor der Wahl zu debattieren, ist viel zu früh. Aber im Prinzip ist klar, dass der Parteivorsitzende der Erste ist, an den man denkt, wenn über die Wahl 2017 gesprochen wird. Sigmar Gabriel macht eine kluge Wirtschafts- und Energiepolitik und führt die Partei erfolgreich in der großen Koalition.

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